Sonntag, 27. Juni 2021

Jutta Voigt: Stierblutjahre. Die Boheme des Ostens


„Es war einmal ein Land, in dem Lampen ohne Fransen und Kaffeetassen ohne Blümchen die Parteitage beschäftigten.“ (Seite 11)

Dieses feine Büchlein erzählt mal wieder eine für die so oft als trist und grau beschriebene kleine DDR eine überraschende Geschichte. Die Unangepassten, die Lebenskünstler stehen in ihrem Mittelpunkt- die Boheme des Ostens, wie der Untertitel lautet.

Ich kann inzwischen gar nicht mehr zählen, wie oft ich schon meine Überraschung geschildert habe, darüber wie viele verschiedene und unterschiedliche Realitäten offenbar in diesem kleinen Land steckten und möglich waren, das ich nur aus der dörflichen Perspektive in Thüringen kennenlernte. Und selbst für diesen Ort, unweit der Grenze zu Hessen, würde ich trist und grau als Adjektive schon nicht annehmen wollen.

Rückwirkend gab es auch hier bohemehafte Momente. Wenn zum Beispiel in der großen Hofpause die Fenster des Jugendklubs im Keller geöffnet wurden, Boxen zum Hof gedreht und Musik von den Rolling Stones erschallte – protegiert durch den stellvertretenden Direktor, der Teil eines größeren Stones-Fan-Netzwerkes war, wie ich Jahre später erfahren habe. Oder aber beim Tanzstunden-Abschlussball, der Moment, als unsere Direktorin ganz allein mitten auf der Tanzfläche stand, ein Glas Whiskey oder ähnliches in der einen Hand, das Mikrofon am langen Kabel in der anderen. Eine Zigarette war, glaube ich, auch noch im Spiel. Und ganz ohne Begleitung aber mit unglaublich rauchig-brüchiger Stimme sang sie das Haifischlied von Bert Brecht. Alle hatten diesen legendären Moment herbeigesehnt, von dem uns die älteren Jahrgänge raunend erzählten.

Gänzlich verwundert kann ich also doch nicht sein, über das, was Jutta Voigt aus der für mich damals so fernen Hauptstadt berichtet. Genaugenommen sind es die Geschichten, die für so viele genau den Reiz ausmachen, für den der alte Prenzlauer Berg immer so bewundert wurde – auch wenn hier meist der Kiez in der Wendezeit und in den frühen Neunzigern gemeint ist. Aber vielleicht ging das ja auch fließend ineinander über.

Möglicherweise lässt ein Gesellschaftssystem wie die DDR ja auch eine Boheme, Unangepasste, Kreative, Gradwanderer erst so richtig schillern, weil sich all die braven Bürger:innen so sehr konform verhielten oder aber das Schillern aufs rein Private begrenzten. Hier dagegen wurde mindestens in den nächtlichen Anlaufstellen das Private ordentlich zur Schau getragen, ausgelebt und zwar hemmungslos. So wirkt es wenigstens nachträglich.

Jutta Voigt hat kein Sachbuch geschrieben. Es ist viel mehr ein sehr literarisches und, glaube ich, sehr persönliches Erinnerungsbuch. Sie streift durch die Lokale und Zeiten mit atmosphärisch dichten Bildern, rauchgeschwängert und von Stierblut vollgesogen. Das ist wirklich grandios zu lesen.

Je mehr ich über dieses seit über dreißig Jahren verschwundene Land lese, um so weniger kann ich für mich sagen, was und wie es denn nun eigentlich gewesen sein mag. Also trage ich weiter all diese Mosaiksteinchen zusammen und genieße solche Perlen wie dieses Buch. Das will auch so gar nicht vergessen machen, welche auch wirklich schrecklichen Ecken und Seiten es dort auch gab.

Kurz und gut: Passt bestens zu einer Flasche Stierblut. Diesen ungarischen Wein muss es schon allein deswegen noch geben, weil es solch unglaublich guten Texte gibt. Lesen!

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