Sonntag, 19. Februar 2023

Colson Whitehead: Die Nickel Boys


(Übersetzung: Henning Ahrens)

„Sogar als Tote machten die Jungs noch Ärger.“ (Seite 7)

Jeder Junge im Umkreis der Nickel-Anstalt in Florida kannte in den 60-Jahren deren Ruf. Und das war kein guter. Besserungsanstalt – als ob dort etwas besser würde unter dem seriösen Anstrich einer Anstalt. Die Jungs waren in verschiedenen Häusern untergebracht, das Essen weniger als mäßig gut, Unterricht lief nur pro forma. Wenn überhaupt, dann lernten die Jungs hier nur, trotz der offensichtlich sadistisch veranlagten Aufseher irgendwie ihre Zeit hier zu überstehen, nicht mit der falschen Gang aneinander zu geraten – kurz, hier besserte sich nichts, für niemanden.

Erschütternd ist, dass, nach allem, was wir heute wissen, fast jedes Land der freien Welt solche Geschichten vorzuweisen hat. Unzählige Skandale wurden Jahre und Jahrzehnte aufgedeckt. Ich mag gar nicht drüber nachdenken, was vor historisch so kurzer Zeit noch für eine Art angemessene Erziehung gehalten wurde.

Colson Whitehead erzählt aber nicht einfach nur die Geschichte des verfehlten und skandalösen Umgangs mit jugendlichen Straftätern in den USA. Die Hauptfigur des Romans ist Elwood Curtis, ein Schwarzer Junge, der bei seiner Großmutter lebt. Er ist gut in der Schule und hat die Chance, über Bildung seinen Weg zu finden. Über Bücher findet er auch Zugang zu den Kämpfen der Schwarzen Bewegung. Er ist wahrlich nicht so naiv zu glauben, dass er als Schwarzer im Süden der USA die gleichen Chancen hätte wie ein gleichaltriger weißer Junge aus ähnlichen Verhältnissen.

Just als er kurz davor ist, das College zu besuchen, trifft ihn das, was sich individuell wie Schicksal anfühlen mag, aber eben nichts anderes ist als das System. Er sitzt mit dem Falschen zum falschen Zeitpunkt in einem Auto, dass von der Polizei gestoppt wird. Ob er unschuldig ist oder nicht, interessiert eigentlich niemanden. So findet er sich schnell wieder auf dem Weg in die Nickel-Anstalt.

Die Häuser, in denen die Jungs untergebracht sind, sind streng nach Schwarz und weiß getrennt. Ein Zuckerschlecken ist der Aufenthalt auch für die Weißen nicht. Aber selbst ein ungerechtes, gewalttätiges System kennt noch Abstufungen. Und die Schwarzen Jungs stehen ganz unten. Ich spare mir die Auflistung der Schilderungen in diesem Roman.

Es gibt eine Figur, mit der Whitehead das Infame an diesem rassistischen System so traurig-treffend beschreibt. Ein Junge mit mexikanischen Wurzeln ist für die Aufseher und damit für das System offenbar nicht eindeutig genug erkennbar als eindeutig weiß oder Schwarz. So kommt es, dass er immer wieder von den einen zu den anderen geschickt wird. Findet der Direktor es komisch, dass zwischen all den Schwarzen Jungs ein Weißer steht, wird er zu verlegt. Kommt einem Aufseher in den Sinn, dass er für die weißen Jungs viel zu dunkel sei, wird er wieder verlegt. Praktischer lässt sich kaum erzählen, dass rassistische Zuschreibungen eben genau eines sind – ein Konstrukt von Menschen erdacht, um andere Menschen zu unterdrücken.

Ich will gar nicht verraten, ob es ein Happy End in diesem Roman gibt oder nicht. Zumal es vielleicht ein Glück sein mag, dass diese „Anstalt“ in der Rahmenhandlung bereits Geschichte ist. Auf dem anstaltseigenen Friedhof liegen dennoch Jugendliche begraben, deren Tod als Unfall kaschiert wurde. Ganz zu schweigen von den körperlichen und seelischen Narben, die die Zeit in einer solchen Einrichtung bei den Insassen hinterlassen haben müssen.

Colson Whitehead gerade einmal gut zweihundert Seiten, um eine ganze Welt und das Leben von Elwood Curtis schmerzhaft lebendig werden zu lassen. Er forciert nicht mit dramatischer Sprache. Vielmehr wirkt die Ungeheuerlichkeit dessen, was er beschreibt, durch den eher nüchternen Stil. Ich konnte das Buch während des Lesens nur schwer aus der Hand legen.

Kurz und gut: Aufklärerisch und literarisch in bestem Sinne. Lesen, unbedingt!

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