Sonntag, 10. März 2024

Geertje Graef: Die Unbekannten. Ein ostdeutsches Dorf und seine Frauen


„Ein halbes Jahr habe ich in einer Gemeinde in Ostdeutschland nahe der polnischen Grenze verbracht und Geschichten gesammelt. Es sind Geschichten von Frauen diesseits und jenseits der Wendezeit, diesseits und jenseits der Geschlechtergrenzen.“ (Seite 7)

Auf dem Land, da gehen die Uhren anders. Die Menschen sind viel geerdeter, praktischer und pragmatischer. Traditionen haben einen langen Atem. Gesellschaftlicher Wandel muss den selten fahrenden Überlandbus nehmen und kommt nur mit großer Verzögerung an. Ähem … ich bin mir nicht sicher, wie viel von den Klischees so ungetrübt und zu hundert Prozent zutrifft, auch wenn oft genug etwas dran ist.

In jedem Fall lassen sich mindestens auf den zweiten Blick ja auch immer erstaunliche, überraschende Geschichten finden. Zeit für einen solchen zweiten Blick hat sich die Autorin Gertje Graef genommen, indem sie ein halbes Jahr mit ihrem Kind in einem kleinen Dorf unweit der deutsch-polnischen Grenze lebte, Fragen stellte und zuhörte.

Dabei ging es nicht um die Geschichte des Dorfes im Allgemeinen sondern um die persönlichen Geschichten der Frauen des Dorfes. Welche Verläufe nahmen ihre Lebenswege, um sie ins Hier und Heute zu bringen? Welche Hindernisse mussten sie überwinden, welchen Rückenwind haben sie erfahren?

Die historischen Hintergründe dieser persönlichen Rückblicke reichen dabei von der Nachkriegszeit über die DDR, die Wende- und die Nachwendezeit bis zum dem Kaffeeplausch, zu dem die Autorin so oft eingeladen wurde. Ins Buch haben es 24 dieser Geschichten geschafft und ich vermute, dass die Materialsammlung locker noch sehr viel mehr hergegeben hätte.

Dass hier explizit Frauenleben in den Blick genommen wurden, ist natürlich vor dem Hintergrund besonders spannend, dass das Dorf an sich ja als Refugium traditioneller Geschlechterverhältnisse gilt. Emanzipation wird oft genug als eine Sache von Städter_innen dargestellt. (Vermutlich wird dieses Bild aber auch eher von Männern gezeichnet und gepflegt. 😉) Zugleich muss die Frau auf dem Land, ich bleibe beim Klischee, natürlich genauso praktisch veranlagt und zupackend sein, wie es Männern gern zugeschrieben wird. Einfach schon, weil die Lebensumstände auf dem Dorf dazu zwingen. Was liegt also näher, als die persönlichen Lebenswege nachzuzeichnen und sichtbar zu machen.

Sichtbar werden damit individuelle Möglichkeiten, mal enger, mal weiter, das eigene Leben zu planen und zu gestalten. Die Geschichten erzählen von Träumen aber auch von Zwängen, von Zufällen und von Leben, das sich nicht nur als Familienanhang versteht. Und immer wieder sorgen gesellschaftliche Umbrüche eben doch für Neuorientierungen, Flurschäden auch, für alles, was ein Menschenleben halt so beeinflusst.

Ich habe diesen Band gelesen, kurz bevor ich das hervorragende Buch von Juliane Stückrad als explizite ethnologische Arbeit gelesen habe. Methodisch sind die beiden Autorinnen vermutlich gar nicht so weit voneinander entfernt, auch wenn Gertje Graef Medizin und Theaterregie studierte. Ich mochte beim Lesen ihren Blick auf die Frauen, deren Geschichten sie erzählt und auch, dass sie selbst dabei sichtbar war, ohne in den Vordergrund zu treten.

Es ist ein eher stilles Buch, das gar nicht zwingend in einem Zug gelesen werden will. Es wirft keine Annahme über das Dorfleben komplett auf den Haufen, sorgte bei mir aber für einen Moment des Innehaltens, weil ich mich fragte, welche Geschichten aus meiner alten Heimat ich bisher nicht kenne, weil ich sie recht jung recht weit hinter mir gelassen habe.

Kurz und gut: Einfach mal zuhören, was das Leben für Geschichten zu erzählen hat. Lesen!

Danke für das Leseexemplar, du weißt schon! 😉

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