(Übersetzung: Nikolaus de Palézieux)
„Ende August 1925 erreichte das Dampfschiff Sonoma, ein Dreidecker auf Fahrt von San Francisco nach Sidney, einen Hafen, der durch einen erloschenen Vulkan entstanden war.“ (Seite 9)
Es sind schon wilde Zeiten. Also so gesellschaftlich gesehen. Unterhaltungen, selbst unter irgendwie Gleichgesinnten, denen das Herz links schlägt, fühlen sich ganz oft wie harter Kulturkampf an. Es reicht, dass jemand „vegan“ sagt oder gar sowas wie „race, class, gender“. Hui, dann geht’s aber los und ist oft gar nicht mehr so einfach einzufangen. Irgendjemand sagt dann auch noch mit hoher Wahrscheinlichkeit, dass man ja gar nichts mehr sagen dürfe.
Na, hat das Wiedererkennungswert? Auf die eine oder andere Art? 😉
Wenn man es dann schafft, sich doch nicht anzuschreien und wutentbrannt auseinander zu gehen, lässt sich herausfinden, dass es meist doch einen gemeinsamen Nenner gibt. Zum Beispiel gibt es wenig oder keinen Widerspruch zu der Annahme, dass alle Menschen von Geburt an gleich wertvoll sind, ihnen eine allgemeine Menschenwürde nicht abgesprochen werden soll usw. Geschlechtergerechtigkeit finden wir gut, Rassismus doof, Minderheitenrechte sind Menschenrechte … Worüber genau streiten wir uns dann aber eigentlich? Und warum so erbittert?
Dieser Band von Charles King bietet Wissenschaftsgeschichte, Biografisches und auch Gesellschaftsgeschichte, indem er Franz Boas, einen deutschen Wissenschaftler, der in die USA ging, und einen Kreis von Ethnolog_innen um ihn herum vom späten 19. Bis ins frühe 20. Jahrhundert hinein begleitet. Das ist überaus spannend, weil hier der Grundstein für die Erkenntnis gelegt wurde, die heute Allgemeingut ist: race, class, gender sind gesellschaftliche Konstrukte. Gesellschaften sorgen also für Kategorisierungen von Menschen und das ist nicht naturgegeben, sondern eben menschengemacht.
Es braucht ein bisschen in den eingangs beschriebenen Debatten, aber eigentlich ist diese Erkenntnis inzwischen Allgemeingut. King beschreibt, wie dieses Wissen gegen teils heftige Widerstände und unter großem persönlichen Einsatz von einer Reihe Wissenschaftler_innen erarbeitet wurde. Franz Boas dient hier als Ausgangspunkt, drei seiner Schülerinnen werden nicht weniger gewürdigt und auf ihren Wegen begleitet: Ruth Benedict, Margaret Mead und Zora Neale Hurston.
Sie alle behaupteten nicht nur gesellschaftliche Konstruktion sondern lieferten in zahlreichen Studien, Untersuchungen, mittels Feldforschung etc. all das Material, auf dem so viele weitere Generationen von Wissenschaftler_innen aufbauen konnten. King lässt auch die Kontrahenten auftreten, die für die Welt stehen, in der es ein Naturgesetz sein sollte, dass weiße Menschen mehr wert wären als Schwarze, Männer mehr als Frauen, und in der der Platz in der Gesellschaft, an den die Geburt einen Menschen stellt, unveränderlich sei.
Kings Buch beantwortet nicht die Frage, worüber wir uns nun heute eigentlich streiten und warum so bitterlich. Aber ich empfand diesen historischen und intellektuellen Ausflug als ein erdendes Erlebnis. Erdend, weil ein Bezugspunkt beschrieben wird, der auch in aktuellen politischen Debatten einen guten Anker bietet.
Warum sollten die oben erwähnten Debatten nicht dazu führen können, gemeinsam zu überlegen, was womöglich noch gesellschaftliche Konstruktionen sind. Und wenn es eine Gemeinsamkeit dabei gibt, eine solche Konstruktion falsch zu finden, warum sollte dann kein gemeinsamer Blick auf mögliche Lösungen und Schritte in eine bessere Richtung denkbar und sprechbar sein?
Kings Text ist durchaus anspruchsvoll aber trotzdem gut lesbar, auch wenn man nicht tief in den Debatten steckt, aber genügend Neugierde mitbringt. Für mich eine lohnende Entdeckung.
Kurz und gut: Wissenschaftsgeschichte, Biografie und Bild einer wilden Zeit – alles in Einem. Lesen!
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