Donnerstag, 6. Dezember 2018

David Mitchell: Die tausend Herbste des Jacob de Zoet



„Fräulein Kawasemi?“ Orito kniet auf dem feuchten, muffigen Futon. „Hören Sie mich?“ (Seite 11)

Mitchells Roman beginnt im Japan des Jahres 1799 und ist eine – Achtung, schlimmes Wort – sprachgewaltige Reise in eine ferne Welt. 😉

Der Stadt Nagasaki vorgelagert ist eine kleine Handelsniederlassung der Niederländischen Ostindien-Kompagnie auf der Insel Dejima. Hierher verschlägt es den jungen Jacob de Zoet, der hofft, nach wenigen Jahren als gestandener Handelsmann einigermaßen vermögend wieder in die Heimat zurückkehren zu können. Denn dort wartet Anna, die er von Herzen liebt und heiraten möchte.

Doch Dejima ist ein eigenartiger Ort, ein ganz eigener Kosmos. Jacob soll die mögliche Korruption von Vertretern der Kompagnie aufklären, womit er sich sogleich einer tiefen Abneigung und des Misstrauens der meisten hier ansässigen Ausländer erfreuen kann. Zugleich ist Dejima ein abgeschottetes Eiland, mit Nagasaki durch eine Landbrücke verbunden, die die Stadt hermetisch abriegelt. Japan mag keine Ausländer und ist ein verschlossenes Land. Niederländische Schiffe erreichen Dejima nur zu den jährlichen Handelszeiten.

Grandios fächert Mitchell die Verstrickungen unter den zum Teil schrägen Gestalten der Kompagnie auf, denen sich der geradlinige und ehrliche Jacob gegenüber sieht. Durch seine Augen werfen wir einen ersten Blick auf Nagasaki und den Palast des Statthalters des Shoguns. Hauptsächlich aber erlebt er Japan durch die Zusammenarbeit mit den japanischen Dolmetschern und die stark reglementierten Umgangsformen und Zeremonien.

Obwohl das japanische Reich sich so abschottet, sickert unter diesem engmaschigen Netz an Vorschriften und Reglements aber eben doch das echte Leben hindurch. Auch japanische Geschäftsleute schmuggeln, die Neugierde und Wissbegierde mancher Dolmetscher ist stärker als Verbote, Prostituierte passieren die Landbrücke, einige angehende Ärzte erhalten Unterricht beim Arzt der Kompagnie. Unter diesen Ärzten ist auch Orito, eine junge Hebamme aus gutem Hause, die sich mit ihrer Eigenwilligkeit und Charakterstärke in eine Position bringen konnte, die ihr das ermöglicht, was Frauen im Japan dieser Zeit grundsätzlich verwehrt wird: Lernen und Bildung.

Jacob trifft auf Orito, die seine Fantasie entzündet und seine Leidenschaft anfacht. Es bleibt ihm aber nur, sie aus der Ferne zu begehren. Orito wiederum versprach ihr Herz einem der Dolmetscher, mit dem auch Jacob Umgang pflegt. Und damit wären die drei Hauptfiguren des Buches beisammen.

Rund um diese Dreiecksbeziehung dieser Drei, deren Lebenswege sich immer nur kurz und nie frei kreuzen können, entfaltet Mitchell die Geschichte des Niederganges von Dejima als Handelsposten und Tor zu Japan oder auch als Japans Tor zur Welt, die Geschichte einer unmöglichen Liebe zweier junger Japaner, die in das starre gesellschaftliche Korsett ihrer Zeit gezwungen sind, bis hin zu den Machtkämpfen in einer japanischen Gesellschaft in einer Welt des Umbruchs.

Die Globalisierung des heraufziehenden 19. Jahrhunderts macht auch vor den Küsten Japans nicht Halt und wirkt sich natürlich auf das Machtgefüge des Shogunreiches aus. Auch die Menschen, die mit den wenigen Ausländern in Kontakt kommen, bleiben davon nicht unberührt. Sie erhaschen einen Blick auf eine Welt, die so anders funktioniert als ihre eigene, weltabgeschiedene.

Mit poetischen Beschreibungen bringt uns Mitchell dieses Japan näher. Über Dejima führt er uns tief in das noch mittelalterlich geprägte Japan, ganz ohne Sensationsgier – aber mit dramatischen Wendungen, deren Sog die Leser*innen immer mehr in ihren Bann zieht.

Dieser Roman gehört zu denen, die ich beim Schmökern wirklich nur schwer aus der Hand legen konnte. Während ich oft beim Lesen schon überlege, was ich als Nächstes in Angriff nehme, ist dies eines der Bücher, bei denen ich Seite für Seite hoffe, dass es einfach weiter gehen möge.

Kurz und gut: Ich habe David Mitchell für mich entdeckt. Tristes Herbstwetter und kurze Tage – dieser Roman hilft! 😉

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