Dienstag, 7. Mai 2019

Naomi Alderman: Die Gabe



„Liebe Naomi,
das verdammte Buch ist fertig. Ich schicke es dir, inklusive aller Fragmente und Zeichnungen, in der Hoffnung, Rat von dir zu erhalten oder zumindest endlich das Echo zu hören, wenn ich diesen Stein von Buch in den Brunnen werfe.“ (Seite XI)

Dem MM fiel einmal auf, dass der größere Teil der Bücher, die ich so lese, offenbar von Männern geschrieben wurden. In den letzten Wochen habe ich das bewusst durchbrochen und Bücher von und über Frauen gelesen. Erst ließ ich mich bereitwillig vom #ferrantefieber anstecken, dann folgten die Schocktherapie mit Anke Stelling und ein futuristischer Ausflug mit Naomi Alderman.

So sehr ich die Entdeckungen genossen habe, hätte vielleicht jemand einen Vorschlag für etwas Tröstliches und trotzdem Emanzipatorisches? Irgendwas, wo es ein Happy End gibt? 😉

In ferner, ich glaube wirklich sehr ferner Zukunft, schreibt ein Neil Adam Armon einen historischen Roman mit dem Titel „Die Gabe“. Ein Briefwechsel zwischen ihm und einer guten Freundin Naomi rahmt diesen Roman und liefert, dass darf ich verraten, einen letzten Kick am Ende des Buches.

Der Kniff ist sicher nicht neu, aber in der überaus gut lesbaren Erzählung von Alderman funktioniert das wunderbar. Und ehe man sich versieht, ist man auch schon mittendrin, in einer Story, die gut hier und heute spielen könnte.

Mit einem Schlag entdecken junge Frauen eine Gabe in sicher. Mit einer einfachen Berührung können sie anderen Menschen Schmerzen zufügen oder sie gar töten. Die Gabe taucht zwar scheinbar plötzlich auf, Alderman lässt uns aber anhand von einigen wiederkehrenden Figuren erleben, wie einzelne Frauen diese neue Kraft entdecken, ausprobieren, daran leiden, scheitern oder sie zu nutzen lernen. Das alles passiert nicht von jetzt auf gleich, woraus die Autorin einen dichten Teppich an unterschiedlichsten Geschichten webt.

Eine Waise, die genügend Leid am eigenen Leib ertragen musste, reißt aus der Pflegefamilie aus und wird zur spirituellen Führerin einer neuen Bewegung von Frauen. Die Tochter aus einer Verbrecherfamilie in London schwingt sich auf, die männliche Dynastie in ihrer Familie zu brechen und scheint mit ihren enormen Kräften unbesiegbar geworden zu sein. Eine Politikerin in den Staaten nutzt die Entwicklung, um sich Stück für Stück die Kariereleiter heraufzuarbeiten und sich dabei ihre eigene Machtbasis auch mittels der neuen Stärke der Frauen auszubauen.

All das wird von einem jungen Journalisten aus dem Niger dokumentiert, der die einzige männliche Hauptrolle in dem Roman spielt. Er ist zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort. Ihm gelingt es, so über die das eruptive Auftreten dieses neuen Phänomens zu berichten, dass nicht nur die Frauen, das neue starke Geschlecht, ihm vertrauen, sondern auch der sich formierende männliche Widerstand.

Da das Phänomen global auftritt, kann Alderman verschiedene Geschichten darüber erzählen, wie Frauen mit einer solchen Macht umgehen könnten, was das für Gesellschaften bedeuten könnte.

Die ehemalige Waise wird zur Hohepriesterin einer Glaubenslehre, in der Gott sich als Frau zeigt. Sie liefert einer alten Gewissheiten entleerten Welt eine Erklärung, und viele brauchen und suchen genau das. Vor allem, da die Wissenschaft dem Phänomen ratlos gegenübersteht.

In der Gangsterwelt Londons werden immer noch Gangstersachen gemacht. Frauen setzen ihre Stärke ein, um ihre Geschäfte abzuwickeln. Männer werden zu Handlangern, den Frauen hoffnungslos unterlegen.

Die Politikerin steigt zur Senatorin auf und hegt das Phänomen ein, indem sie Lager schafft, in denen Frauen und Mädchen ihre Kräfte zielgerichtet einzusetzen lernen. Der militärische Drill dabei dient der Disziplinierung und schafft der Politikerin eine eigene Armee zur Untermauerung und Durchsetzung ihrer Interessen.

Im fernen Moldawien kommt der bisherige Diktator ums Leben. Seine Frau übernimmt das Zepter und errichtet einen ersten Staat der Frauen, in dem Männer in die Rolle gedrängt werden, die Frauen jahrhundertelang innehatten. In diesem entlegenen Winkel der Welt entbrennt ein Kampf zwischen der männerdominierten Vergangenheit und einer frauendominierten Zukunft, der von beiden Seiten erbittert, brutal und erbarmungslos geführt wird.

Der Journalist als Berichterstatter ermöglicht die Perspektive eines Mannes auf das Geschehen, ohne sich der einen oder anderen Seite zuschlagen zu müssen. Gleichwohl erlebt er sowohl das freundliche Gesicht der starken Frauen wie auch rücksichtslose Gewalt. Mit ihm erleben die Leser*innen den ganzen Zwiespalt eines eigentlich gutherzigen Mannes, der qua Geschlecht privilegiert aufwuchs, trotzdem nichts patriarchales an sich hat, sich aber eben auch erst im Verlauf der Geschichte bewusst wird, wie sehr auch er Teil einer so lange gewachsenen gesellschaftlichen Realität war und ist. In ihm und mit ihm erzählt Alderman von altbekannter Erniedrigung und Demütigung, die nun Männer im fernen Moldawien erfahren.

Der historische Roman von Neil Adam Armon endet, ohne dass das Ende der Entwicklung vorweggenommen wird. Erst im abschließenden Briefwechsel in ferner ferner Zukunft wird das historische Ausmaß der Umwälzungen deutlich.

„Die Gabe“ ist spannend und packend erzählt, fast schnörkellos und unterscheidet sich damit deutlich sowohl vom sonnigen Neapel ebenso wie vom rau-desillusionierten Tonfall Anke Stellings. Ich tippe auf eine baldige Verfilmung und wäre da sehr gespannt drauf.

Achja, einen Fehler des Verlags muss ich dann doch noch festhalten. Im Klappentext wird aus dem Journalisten, den ich im Roman als eindeutig männlich kennenlernte, mal eben eine „junge Nigerianerin“. Das ist ein bisschen peinlich. Beim Thema des Buches aber auch fast schon wieder witzig oder gewitzt. ^^

Kurz und gut: Packend, aufrüttelnd, emanzipatorisch und auch noch unterhaltend. Naomi Alderman ist definitiv eine Leseempfehlung!

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