„Liebe Naomi,
das verdammte Buch ist fertig. Ich schicke es dir, inklusive aller
Fragmente und Zeichnungen, in der Hoffnung, Rat von dir zu erhalten oder
zumindest endlich das Echo zu hören, wenn ich diesen Stein von Buch in den
Brunnen werfe.“ (Seite XI)
Dem MM fiel einmal auf, dass der größere Teil der Bücher, die ich
so lese, offenbar von Männern geschrieben wurden. In den letzten Wochen habe
ich das bewusst durchbrochen und Bücher von und über Frauen gelesen. Erst ließ
ich mich bereitwillig vom #ferrantefieber anstecken, dann folgten die
Schocktherapie mit Anke Stelling und ein futuristischer Ausflug mit Naomi Alderman.
So sehr ich die Entdeckungen genossen habe, hätte vielleicht
jemand einen Vorschlag für etwas Tröstliches und trotzdem Emanzipatorisches?
Irgendwas, wo es ein Happy End gibt? 😉
In
ferner, ich glaube wirklich sehr ferner Zukunft, schreibt ein Neil Adam Armon
einen historischen Roman mit dem Titel „Die Gabe“. Ein Briefwechsel zwischen ihm
und einer guten Freundin Naomi rahmt diesen Roman und liefert, dass darf ich
verraten, einen letzten Kick am Ende des Buches.
Der
Kniff ist sicher nicht neu, aber in der überaus gut lesbaren Erzählung von
Alderman funktioniert das wunderbar. Und ehe man sich versieht, ist man auch
schon mittendrin, in einer Story, die gut hier und heute spielen könnte.
Mit
einem Schlag entdecken junge Frauen eine Gabe in sicher. Mit einer einfachen Berührung
können sie anderen Menschen Schmerzen zufügen oder sie gar töten. Die Gabe taucht
zwar scheinbar plötzlich auf, Alderman lässt uns aber anhand von einigen
wiederkehrenden Figuren erleben, wie einzelne Frauen diese neue Kraft
entdecken, ausprobieren, daran leiden, scheitern oder sie zu nutzen lernen. Das
alles passiert nicht von jetzt auf gleich, woraus die Autorin einen dichten
Teppich an unterschiedlichsten Geschichten webt.
Eine
Waise, die genügend Leid am eigenen Leib ertragen musste, reißt aus der
Pflegefamilie aus und wird zur spirituellen Führerin einer neuen Bewegung von
Frauen. Die Tochter aus einer Verbrecherfamilie in London schwingt sich auf,
die männliche Dynastie in ihrer Familie zu brechen und scheint mit ihren
enormen Kräften unbesiegbar geworden zu sein. Eine Politikerin in den Staaten
nutzt die Entwicklung, um sich Stück für Stück die Kariereleiter
heraufzuarbeiten und sich dabei ihre eigene Machtbasis auch mittels der neuen
Stärke der Frauen auszubauen.
All
das wird von einem jungen Journalisten aus dem Niger dokumentiert, der die
einzige männliche Hauptrolle in dem Roman spielt. Er ist zum richtigen
Zeitpunkt am richtigen Ort. Ihm gelingt es, so über die das eruptive Auftreten
dieses neuen Phänomens zu berichten, dass nicht nur die Frauen, das neue starke
Geschlecht, ihm vertrauen, sondern auch der sich formierende männliche
Widerstand.
Da das Phänomen global auftritt, kann Alderman verschiedene
Geschichten darüber erzählen, wie Frauen mit einer solchen Macht umgehen
könnten, was das für Gesellschaften bedeuten könnte.
Die ehemalige Waise wird zur Hohepriesterin einer Glaubenslehre,
in der Gott sich als Frau zeigt. Sie liefert einer alten Gewissheiten
entleerten Welt eine Erklärung, und viele brauchen und suchen genau das. Vor
allem, da die Wissenschaft dem Phänomen ratlos gegenübersteht.
In der Gangsterwelt Londons werden immer noch Gangstersachen
gemacht. Frauen setzen ihre Stärke ein, um ihre Geschäfte abzuwickeln. Männer
werden zu Handlangern, den Frauen hoffnungslos unterlegen.
Die Politikerin steigt zur Senatorin auf und hegt das Phänomen
ein, indem sie Lager schafft, in denen Frauen und Mädchen ihre Kräfte zielgerichtet
einzusetzen lernen. Der militärische Drill dabei dient der Disziplinierung und
schafft der Politikerin eine eigene Armee zur Untermauerung und Durchsetzung
ihrer Interessen.
Im fernen Moldawien kommt der bisherige Diktator ums Leben. Seine
Frau übernimmt das Zepter und errichtet einen ersten Staat der Frauen, in dem
Männer in die Rolle gedrängt werden, die Frauen jahrhundertelang innehatten. In
diesem entlegenen Winkel der Welt entbrennt ein Kampf zwischen der männerdominierten
Vergangenheit und einer frauendominierten Zukunft, der von beiden Seiten
erbittert, brutal und erbarmungslos geführt wird.
Der Journalist als Berichterstatter ermöglicht die Perspektive
eines Mannes auf das Geschehen, ohne sich der einen oder anderen Seite zuschlagen
zu müssen. Gleichwohl erlebt er sowohl das freundliche Gesicht der starken Frauen
wie auch rücksichtslose Gewalt. Mit ihm erleben die Leser*innen den ganzen
Zwiespalt eines eigentlich gutherzigen Mannes, der qua Geschlecht privilegiert
aufwuchs, trotzdem nichts patriarchales an sich hat, sich aber eben auch erst
im Verlauf der Geschichte bewusst wird, wie sehr auch er Teil einer so lange
gewachsenen gesellschaftlichen Realität war und ist. In ihm und mit ihm erzählt
Alderman von altbekannter Erniedrigung und Demütigung, die nun Männer im fernen
Moldawien erfahren.
Der historische Roman von Neil Adam Armon endet, ohne dass das Ende
der Entwicklung vorweggenommen wird. Erst im abschließenden Briefwechsel in
ferner ferner Zukunft wird das historische Ausmaß der Umwälzungen deutlich.
„Die Gabe“ ist spannend und packend erzählt, fast schnörkellos und
unterscheidet sich damit deutlich sowohl vom sonnigen Neapel ebenso wie vom rau-desillusionierten
Tonfall Anke Stellings. Ich tippe auf eine baldige Verfilmung und wäre da sehr
gespannt drauf.
Achja, einen Fehler des Verlags muss ich dann doch noch
festhalten. Im Klappentext wird aus dem Journalisten, den ich im Roman als
eindeutig männlich kennenlernte, mal eben eine „junge Nigerianerin“. Das ist
ein bisschen peinlich. Beim Thema des Buches aber auch fast schon wieder witzig
oder gewitzt. ^^
Kurz und gut: Packend, aufrüttelnd, emanzipatorisch und auch noch
unterhaltend. Naomi Alderman ist definitiv eine Leseempfehlung!
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen