„Als Sandra Anfang der Siebziger geboren wurde, war es Mode, den
Kindern kurze Namen zu geben. Leicht auszusprechen, unprätentiös.“ (Seite 5)
Ich folge ja eher selten einem Lektüreplan und greife mir meist,
was mich unmittelbar anspricht. Manchmal wird man als Leser*in ja aber auch vom
Buch ausgesucht. Ich vermute, ihr wisst, was ich meine.
Nachdem ich gerade noch viele Seiten lang mit Elena Ferrante in
Neapel zugebracht hatte, immer irgendwie mit so einem atmosphärischen Gefühl,
wie in einem Film aus den Fünfzigern, der in Süditalien spielt, und bei dem die
Bilder so eine warme, leicht verwaschene Patina zu haben scheinen, drängelte sich
dieser Roman von Anke Stelling in der Lesereihe ganz nach vorn. Das gab eine
echt harte Landung in Berlin, im Prenzlauer Berg, quasi in der Nachbarschaft.
Die ersten Seiten von Sandras Bericht waren eine echte Herausforderung,
was ich aber gern auf den Kontrast zwischen den beiden Lesewelten schiebe.
Plötzlich war nichts mehr verspielt, Gefühle, auch die schweren, kamen nicht
mehr so leichtfüßig daher, das Klima war – in jeder Hinsicht – so ungleich rauer
als im Neapel von Elena Ferrante.
Sandras Geschichte also. Sandra ist offenbar wenig älter als ich,
hat zwei Kinder und einen Mann. Gemeinsam leben sie in einem
Mehrgenerationenhaus in Berlin, dass sie mit anderen Familien als großes
Gemeinschaftsprojekt gebaut haben. Es hat bodentiefe Fenster, was für die
Offenheit stehen sollte, mit der diese Gemeinschaft sich der Welt und eben auch
sich selbst präsentiert. So ein echtes „Gutmenschenprojekt“ eben.
Sandras Geschichte ist aber eigentlich gar nicht so recht eine
Geschichte, vielmehr eine langes Sinnieren, Lamentieren, Reflektieren und
Leiden – während im Grunde kaum etwas passiert, also handlungstechnisch.
Es gibt Treffen mit Freundinnen, Gemeinschaftsaktivitäten im Haus,
der Jüngste muss in die Kita gebracht werden und alles steuert ziemlich
unvermeidlich auf einen Burnout zu. Wenn ich das gerade selbst noch einmal so
lese, merke ich, wie nervig ich Sandras Bericht beim Lesen fand. Ich meine das
aber durchaus in einem literarisch guten Sinne. Und ich versuche das zu
erklären.
Sandras Mutter dürfte in etwa zu der Generation gehören wie auch
Elena in Neapel. Sie hat viel auf sich genommen, um mit Bildung und Haltung der
miefig-patriarchalen Welt der Nachkriegszeit und der Aufbaujahre zu entkommen. Ihren
Kindern ein anderes Aufwachsen zu ermöglichen, mit Kinderladen und Co, war Teil
ihrer eigenen Emanzipation. Mutter zu sein, wie sie es verstand und lebte, war
aber zugleich anscheinend das, was sich nicht emanzipatorischer leben und
ausfüllen ließ. Selbstaufopferung, damit die Kinder es mal besser haben und besser
machen, dieses irgendwie grundkonservative Motto bestimmte dann eben doch ihr Leben.
Es bestimmt aber eben auch Sandras Leben, deren Bericht eine lange
Frage ist, was dieses „besser haben“ denn eigentlich sein und wie das gehen
soll. Der Burnout ist das anscheinend unausweichliche Scheitern an dieser
Mitgift ihrer Mutter.
Beim Lesen drängte sich mir unweigerlich der rote Faden auf, der
sich durch meine ja eigentlich zufällige Lektürefolge schlängelte. Hier Elena,
die durch Bildung entdecken kann, wie weit sie sich aus den engen Küchen ihres Viertels,
dem üblichen Platz für die Frauen, befreien kann. Die aber auch die Grenzen zu
spüren bekommt, die ihre Herkunft ihr zieht. Auf der anderen Seite Sandra, die
ihre Tochter sein könnte und im Berlin der Jetztzeit eigentlich alles ganz
selbstverständlich im Gepäck hat, was sich Elena erst erarbeiten, erkämpfen
musste. Sandra bräuchte das Erbe nur anzutreten und es eben besser machen und
das „es besser haben“ zu genießen.
Sandras Problem ist, dass ihr genau das nicht gelingt. Und Anke
Stellings Text seziert diese eigentliche Nichthandlung Stück für Stück. Der
unangenehme Geschmack beim Lesen kam wenigstens für mich auch dadurch zustande,
dass ich keine Frau sein muss, um immerhin so manche Szene deutlich mitfühlen
zu können. Als nur ein Beispiel will ich das Plenum des Mehrgenerationenhauses
nennen, das ja eigentlich der offene Raum für alle sein sollte. Transparenz, fairer
Umgang miteinander, das gemeinsame Ringen um gemeinsame Entscheidungen. Sandra
leidet daran, dass da dann doch nur Machtfragen auf der Tagesordnung stehen,
und zwar nicht im aufklärerischen, emanzipatorischen Sinn.
Überrascht hat mich, dass der Spielraum für die Eroberung gesellschaftlichen
Raums für Elena so viel größer wirkt als der von Sandra, die viel mehr gefangen
scheint zwischen Kita, Haushalt und Freundinnen, die alle irgendwie auch nur die
besseren Mütter und Frauen sein wollen. Was bleibt also von dem: Du sollst es
mal besser haben und es besser machen?
Der Roman von Anke Stelling ließ mich da mit vielen Fragen zurück,
zum Glück. Er war, glaube ich, auch nicht dazu gedacht, die Antworten gleich
mal mitzuliefern. Geschlechtergerechtigkeit ist ganz offenbar keine Sache von
nur zwei Generationen, wenn sie mehr sein soll als formale Quoten, wenn sie das
„es besser haben“ wirklich lebbar machen will. Offen scheint mir auch die Frage
zu sein, auf welche Siege die Töchtergeneration verlassen kann, und welche
Kämpfe sie möglicherweise auch selbst noch einmal ausfechten muss.
Kurz und gut: „Klar und unerbittlich, witzig und ironisch“ steht
auf dem Backcover, und das ist nicht übertrieben. Dass der Roman auch derbe in
die Magengrube boxt, füge ich anerkennend an. Lesen!
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