Sonntag, 12. April 2020

Ae-Ran Kim: Mein pochendes Leben



(Übersetzung: Sebastian Bring)

„Mein Vater und meine Mutter waren sechzehn, als sie mich bekamen.
Dieses Jahr bin ich sechzehn geworden.
Ob ich siebzehn oder achtzehn werde, weiß ich nicht.“ (Seite 7)

Arum ist der Erzähler dieser Geschichte. Er leidet an Progerie. Mit seinen sechzehn Jahren steckt er im Körper eines Achtzigjährigen. Heilbar ist diese Krankheit nicht. Um an Geld für die teure Behandlung zu kommen, die zumindest die Schmerzen lindert, meldet er sich bei einer Fernsehshow an. Arum erzählt dort seine Geschichte; die Kosten fürs Krankenhaus kommen zusammen. Und ein Mädchen meldet sich bei ihm.

Aus einer anderen Feder, in einem anderen Verlag könnte das alles nur rührselig und sehr kitschig daherkommen. Ae-Ran Kim gelingt es, Arum eine glaubwürdige Stimme zu geben. Die Stimme eines Teenagers, der körperlich so viel älter ist als seine jungen Eltern, der aber zugleich darum weiß, wie viel er selbst nicht mehr erleben wird. Das macht ihn wissensdurstig und schärft seinen Blick. Er ist gelassener als die Menschen um ihn herum.

Im Wissen darum, dass er so etwas wie die erste große und leidenschaftliche Liebe selbst nicht erleben wird, erforscht und erzählt er die Geschichte der Liebe seiner Eltern. Im Hier und Heute sind sie ein noch junges Paar, immer an der Grenze zur Überforderung durch die Situation mit ihrem unheilbar kranken Sohn. Aber natürlich nahm auch diese Liebe ihren Anfang – nämlich just als seine Eltern so alt waren, wie Arum jetzt.

Das Erzählen ihrer Geschichte wird Arums Abschiedsgeschenk an seine Eltern sein, so viel kann ich verraten. Und, dass er sich alle Freiheiten nimmt, sie magisch aufzuladen, um die Liebe, deren Ergebnis er ist, in ein literarisches Kleinod zu verwandeln.

Zwei Teenager leben, nicht weit voneinander entfernt, in einer ländlichen Gegend Koreas. Beide erleben die traditionellen Anforderungen an junge Menschen als Fesseln und rebellieren auf ihre je eigene Weise. Beide wollen ausbrechen, wissen aber noch lange nicht wohin. Es kann also nur vom Schicksal gewollt sein, dass sie sich begegnen – und ineinander verlieben.

Daran erinnert Arum seine Eltern mit der Geschichte, die er ihnen schreibt. Zugleich berichtet er den Leser*innen des Buches über die Konsequenzen dieser jungen, ungestümen Liebe und der frühen Schwangerschaft. Die gesellschaftlichen und familiären Zwänge denen sich seine Eltern gegenüber sehen sind sehr real und verlangen ihnen viel ab. Anstatt über ihre Ziele nachzusinnen, sich auszuprobieren, zu scheitern, sich neu zu versuchen, müssen sie sich nun um ein Kind kümmern.

Arum scheint fast ein wenig froh darüber, dass sein kurzes Leben von anderen Dingen bestimmt wird. So viel Ungefähres kann ihm nicht widerfahren. Er weiß, dass er sterben wird, bevor all die unvorhersehbaren und oft ziellosen Umstände sein Leben ergreifen und prägen können. Vielleicht lässt ihn auch genau dieses Wissen so gelassen, aber eben nicht abgeklärt werden.

Eine einfache Mail nach der Ausstrahlung der TV-Sendung, die ihn bekannt macht und der Öffentlichkeit vorstellt, bringt seine Ruhe ins Wanken. Ein krebskrankes Mädchen schreibt ihn an und scheint damit seine Seele zu berühren. Arums Gelassenheit bröckelt und er erlebt, was für alle Teenager so selbstverständlich ist.

Das Mädchen gibt es nicht. Was sie in Arum auslöst, ist dagegen real. Genauso real wie seine Eltern und ihre Geschichte.

Ae-Ran Kim verwebt die verschiedenen Ebenen dieser Geschichte ganz wunderbar unprätentiös und überaus filigran. Sie verleiht Arum eine Stimme, die echter nicht klingen könnte. Nichts empfand ich beim Lesen als kitschig oder als Effekthascherei.

Ich weiß gar nicht sicher, ob ich beim Blättern am Messestand oder im Buchladen auf das Buch aufmerksam geworden wäre. Zwei Umstände stießen mich dann aber ordentlich mit der Nase auf dieses Buch.

Bei der Leipziger Buchmesse 2018, als sie noch stattfinden konnte also ;), lernten wir das Verlegerpaar des CASS Verlags kennen. Sie erzählten so mitreißend davon, wie sie Texte im Japanischen – oder hier im Koreanischen – entdecken, was es braucht, um sie für deutschsprachige Leser*innen zugänglich zu machen, dass wir ganz angesteckt und neugierig die Lesung von Ae-Ran Kim besuchten. Begeisterung steckt eben an. Und ich konnte damit ein wirklich wunderbares Buch, einen anrührenden und tollen Text entdecken.

Dass wir seitdem unbedingte Fans des CASS Verlags sind, muss ich hier eigentlich schon kaum noch erwähnen. 

Kurz und gut: Für mich eine Entdeckung. Lesen! Unbedingt!

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