Montag, 27. April 2020

Sascha Reh: Gegen die Zeit



„Während draußen geschossen wurde, blieb ich in meinem Zimmer, hungrig, in dumpfer Sorge vor einer Infektion, in Gedanken bei Ana. Ich tat nichts als darauf zu warten, dass sie mich abholten.“ (Seite 9)

Jagdbomber über der Moneda, dem chilenischen Präsidentenpalast, putschende Soldaten davor, mittendrin der erste und freigewählte sozialistische Präsident des Landes – eine letzte Rede an das Volk haltend – das sind Bilder, die sich vielen eingebrannt haben. Sascha Reh erzählt vor diesem historischen Hintergrund eine andere Episode dieses gesellschaftlichen Versuchs, die ebenso wie die Präsidentschaft Salvador Allendes zu einem abrupten Ende kam.

Ein junger deutscher Industriedesigner kommt zunächst für einen Lehrauftrag an der Universität nach Chile, schließt sich dann aber außerdem einem Projekt an, dass futuristischer kaum klingen könnte, gleichwohl aber historisch belegt ist. Lange vor dem Internet sollte der Versuch unternommen werden, Firmen im ganzen Land miteinander zu vernetzen. Kennzahlen zu Produktion, Lieferketten, Material und Bedarfen sollten an einem Ort zusammenfließen, um mithilfe eines Großraumcomputers nahezu in Echtzeit eine bedarfsgerechte Steuerung wirtschaftlicher Tätigkeiten zu ermöglichen. Was für eine Idee, Anfang der 70er Jahre in einem Land, dessen politische Zerrissenheit nicht geringer war als die territoriale Spreizung von der Küste bis in die Anden und von Nord bis nach Feuerland im Süden.

Hans Everding, der junge Deutsche und Erzähler der Geschichte, findet sich in einem idealistischen Team aus chilenischen Expert*innen wieder, dass immer wieder inspiriert wird von einem britischen Wissenschaftler, der hier umsetzen kann, was in seinem eigenen Land als sozialistische Phantasterei abgetan würde.

Die Erzählung von Hans setzt ein am 11. September 1973. Er flüchtete mit wichtigen Materialien aus der Zentrale des Projektes vor den Putschisten, wurde verletzt und erwartet nun, jederzeit von der Soldateska aufgespürt und abgeführt zu werden. In Rückblenden berichtet er davon, wie dieses Projekt aufwuchs, sich das Team fand und mit welchen Widrigkeiten sie in dieser wilden Zeit zu kämpfen hatten.

Das Unvermeidliche geschieht natürlich: Hans wird tatsächlich in seiner Unterkunft ausfindig gemacht und an seinen bisherigen Arbeitsort zum Verhör gebracht. Es erwartet ihn ein Offizier, der deutsch kann und Informationen über das Projekt verlangt. Diese Verhörsituation und die ihr folgenden machen einen guten Teil des Geschehens aus, in der Schilderung des Erzählers vermischen sich hier sein Bericht an die Leser*innen und das, was er dem Offizier erzählt.

Die Putschisten wollen Zugriff auf die dem Projekt innewohnenden Daten über Fabriken, Menschen, Unterstützer*innen usw. erhalten. Hans hätte als deutscher Staatsbürger natürlich auch die Möglichkeit sich durch seine Ausreise aus der Affäre zu ziehen. Aber so einfach liegen die Dinge natürlich nicht. Immerhin hatte er nicht nur für das Projekt Verantwortung übernommen, sondern damit auch für die Menschen in Chile und für den politischen Versuch.

Doch wem seiner bisherigen Mitstreiter*innen aus dem Projekt konnte er noch weiterhin vertrauen? Wer war bereit die Seiten zu wechseln? Wie viel eigenes Leiden würde Hans bereit sein zu ertragen, ohne sein Wissen preiszugeben?

Den Text empfand ich anfangs ein wenig tröge, was allerdings der Erzählstimme von Hans Everding geschuldet war. Genauso wie der Zeit brauchte, um in Chile anzukommen, Beziehungen zu den Menschen aufzubauen, so brauchte es auch etwas Zeit, bis das Erzählen in Schwung kam. Spätestens bei den Schilderungen der Verhöre musste ich aber den Hut vor dem Autor ziehen, dem hier ein Erzählgeflecht gelungen ist, das unglaublich intensiv und bedrückend die Atmosphäre einfängt. An dramatischen, brutalen und unglaublichen Szenen bestand im Chile des Putsches ganz sicher kein Mangel. Sascha Reh nutzt die Erzählstimme von Hans, all das distanziert zu schildern und zugleich dennoch für die Menschen und ihre damaligen Visionen und zugleich gegen den barbarischen Umsturz Partei zu ergreifen.

Kurz und gut: Eine nachdenklich stimmende und unbedingt lohnende Lektüre. Ich bin gespannt auf Weiteres von Sascha Reh!

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