Samstag, 4. April 2020

Nils Knoblich: Fortmachen



„1989.
Na Kleiner, wie kann ich dir helfen?
Ich hätte gern zwei große Pomm Fritz.“ (Seite 7/8)

Autobiografische Werke machen mich ja eher selten wirklich neugierig, obwohl ich schon einige wirklich gute gelesen habe. Irgendwie lässt mich die Skepsis nicht so richtig aus ihren Fängen und ich erwarte meistens etwas unnötig Bescheidenes, bei dem ich gar nichts über die jeweilige Person erfahre, oder aber etwas über Gebühr Geschwätziges.

Wenn der erzählte Stoff sich dann auch noch in einem sensiblen zeitgeschichtlichen Raum bewegt, der ohnehin die Gemüter erhitzt und Meinungen sich gern polarisieren lässt, dann möchte ich gern oft die Finger davon lassen.

Nun ja, eines mal gleich vorweg: Fortmachen hat keine meiner Befürchtungen bestätigt. ;)

Nils Knoblich ist 1984 in der DDR geboren. Im gleichen Jahr stellen seine Eltern einen Ausreiseantrag. 1989 kann die Familie in die Bundesrepublik übersiedeln – drei Monate vor dem Fall der Mauer.

Jahre später will Nils mehr über die Umstände der Ausreise, das Leben – auch sein Leben – in der Zeit bis zur Bewilligung des Antrags herausfinden. Er erzählt in diesem Comic die Geschichte der Familie und von deren Ausreise und auch die seiner Suche nach den Erinnerungen.

Die Verknüpfung der Erinnerungen mit ihren Auswirkungen auf die Familie im Hier und Heute machte für mich beim Lesen die Geschichte authentisch. Knoblich erliegt nicht der Versuchung, die DDR als Ganzes fassen und beurteilen zu wollen. Die Wirkung dessen, was er und seine Angehörigen erfahren und erleben mussten, gerät dadurch umso eindringlicher.

Eine junge Familie entscheidet sich für die Ausreise aus dem Land, in dem sie aufgewachsen sind, ihre Freunde und Angehörigen leben, das sie geprägt hat. Bis heute finde ich es schwer zu fassen, wie viel zusammenkommen musste, damit Menschen einen solchen Schritt gehen wollen. Zumal die Bundesrepublik kaum anders denkbar war als entweder paradiesischer Zukunftsort oder als Hort kapitalistischer Ausbeutung und Unterdrückung.

Die Schikanen, denen die jungen Eltern aber auch deren Angehörige ab dem Moment der Antragstellung ausgesetzt sind, geben der Sehnsucht nach Flucht aus diesem Land in jedem Fall recht. Es wird Druck ausgeübt, um eine Rücknahme der Entscheidung zu erzwingen. Es wird getratscht, mit dem Finger gezeigt. Der Alltag gerät zum Spießrutenlauf, ohne dass ein Ende absehbar ist. Ungewissheit, Ablehnung, Druck – die Reaktionen des Systems auf den Wunsch auszuwandern sind unmenschlich.

Knoblich zeichnet all das recht reduziert, ohne allzu sehr detaillierte Hintergründe. Einerseits wird die Geschichte dadurch sehr durch talking heads getragen, andererseits läuft Knoblich nicht Gefahr, eben doch „Wahrheit“ abbilden zu wollen. Erinnerungen sind Ausrisse aus der Wirklichkeit getränkt von ganz persönlichen Einsichten und Sichtweisen. Der Zeichenstil des Comics trägt dem Rechnung.

Auch das Ende autobiografischer Werke empfinde ich als große Herausforderung: Pathos? Ein unglaublich weiser Schlusssatz? Und wo bricht man die eigene Geschichte am besten ab?

Mir gefällt Knoblichs Dreh, der im Heute eine Pointe setzt, die gleichwohl einen Bezug zu den erzählten Erinnerungen herstellt. Mehr verrate ich hier aber nicht. 

Kurz und gut: Wie war das denn früher? Nils Knoblich erkundet die Geschichte seiner Familie und hat zum Glück für uns einen Comic daraus gemacht. Lesen!

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