Sonntag, 27. Dezember 2020

Hilary Mantel: Wölfe



(Übersetzung: Christiane Trabant) 

„‘Und jetzt steh auf.‘

Niedergestreckt, benommen, stumm; er ist gefallen, der Länge nach hingeschlagen auf die Kopfsteine des Hofes. Sein Kopf wendet sich zur Seite; seine Augen richten sich auf das Tor, als könnte jemand kommen, um ihm zu helfen. Ein einziger gut platzierter Schlag könnte ihn jetzt töten.“ (Seite 13)

 

Jetzt also mal was Historisches, aber so richtig. Der da niedergeschlagen wurde, ist Thomas Cromwell. Man schreibt das Jahr 1500. Und der Junge bezieht gerade eine tierische Tracht Prügel von seinem Vater.

 

Kindheit und Jugend von Cromwell sind aber nur insofern interessant, weil sie den Mann formen, um den es hier eigentlich geht. Thomas Cromwell, der vom Gefolgsmann des geschassten Kardinals Wolsey zum engsten Berater des englischen Königs Henry VIII. wird. Vom Sohn eines Schmieds arbeitet er sich empor bis direkt ins Herzzentrum des Königtums. Wie ihm das gelingt, mit welchen Talenten und Fähigkeiten, das beschreibt Hilary Mantel in diesem dicken Brocken an Buch – überaus unterhaltsam.

 

Henry VIII. hat ein Problem. Er hat keinen legitimen Sohn und Erben, und er will seine Ehefrau loswerden, um eine andere zu heiraten. Dummerweise spielt seine Gattin da nicht mit und ist außerdem mit dem europäischen Hochadel verwandt. Und der ist deutlich dagegen, dass der Papst Henry die Scheidung und eine neue Hochzeit erlaubt.

 

Henry und seine Berater versuchen allerhand Tricks, um den päpstlichen Dispens zu erreichen. Auch der mächtige Kardinal Wolsey soll ihm dabei behilflich sein. Für den wiederum arbeitet Thomas Cromwell nach Jahren auf Reisen, die nach und nach aber auch nicht zur Gänze in Rückblenden erzählt werden. Wolsey scheitert und fällt in Ungnade. Aber dem umtriebigen Cromwell gelingt, nicht zusammen mit seinem Förderer unterzugehen. Nach und nach wird er für so viele Adlige unentbehrlich, dass auch der König auf ihn aufmerksam wird. Er bedient sich Cromwells, wie so vieler anderer, um seinen Willen durchzusetzen. Der Anwalt und Politiker Cromwell ist ihm dabei eine bessere Hilfe als alle anderen.

 

Wie kann man sich als allerchristlichster König dem Wort des Papstes widersetzen, ohne zugleich den Glauben infrage zu stellen? Cromwell weiß Rat und findet eine Möglichkeit, den König zum Oberhaupt der Kirche im eigenen Land zu machen, dass er gerade als absoluter Monarch zu festigen sucht. Der kirchliche Sonderweg der anglikanischen Kirche beginnt.

 

Und der Sohn eines Schmieds, der Geschäftsmann wurde und Anwalt und Politiker steht im Zentrum der Macht. Hilary Mantel folgt ihm dabei sehr eng und lässt uns beim Lesen gleichsam in sein Herz und in seinen Kopf schauen. So können wir Cromwell beim Strippenziehen und Schmieden von Allianzen und Abhängigkeiten beobachten. Und obwohl er der ist, der es schafft, so viele Fäden wie kaum jemand vor ihm in der Hand zu halten, bleibt die Diskrepanz zwischen ihm, dem ohne Titel Geborenen, und den ganzen Grafen und Earls um ihn herum überaus greifbar.

 

Rein zufällig hab ich, kurz bevor ich den Roman zu lesen begann, noch die Serie „The Crown“ gesehen. Da ist viel vom Königtum und dessen Selbstverständnis die Rede, auch davon, wie sich das Verhältnis des Adels zum politischen System verhält, in dem die konkrete Politik gemacht, also Macht ausgeübt wird. „Wölfe“ führt zurück in eine Zeit, in dieses System sich noch formte. Und einer, der es maßgeblich mitprägte, ist die Hauptfigur in diesem ersten Band der Tudor-Trilogie von Hilary Mantel.

 

Wer bei diesem Roman so eine klischeebeladene Mantel-und-Degen-Geschichte erwartet, der wird enttäuscht werden. Hilary Mantel beschreibt präzise und erzählt auch nicht einfach nur süffig dahin. Der Roman hat mir zumindest beim Lesen schon einige Aufmerksamkeit abverlangt. Dafür hat er mich aber auch mit einem angenehmen Suchtgefühl belohnt. Ganz passend also zu Weihnachtszeit, Lockdown und dem leicht schwebenden Gefühl zwischen den Jahren.

 

Kurz und gut: Ein wenig wie House of Cards aber mit besseren Kostümen. Lesen!

 

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