Sonntag, 6. Dezember 2020

Steffen Mau: Lütten Klein. Leben in der ostdeutschen Transformationsgesellschaft


 

„In der Nacht vom 9. Auf den 10. November 1989 stand ich als Soldat der Nationalen Volksarmee, mit Stahlhelm und munitionierter Kalaschnikow, vor der Werderkaserne in Schwerin. 48-stündiger Wachtdienst zur Sicherung des Objekts.“ (Seite 11)

 

Heute ist Steffen Mau Professor für Makrosoziologie an der HU in Berlin. Bei dieser kleinen Sozialgeschichte einer sich transformierenden Gesellschaft führt er den Blick aber immer wieder zurück in das Lütten Klein, ein Viertel von Rostock, in dem er aufgewachsen ist. 31 Jahre nach der Wende und 30 Jahre nach der Wiedervereinigung ist er nicht der einzige, der zurückschaut.

 

Der Osten, wie es jetzt statt Neufünfland o.s.ä. heißt, scheint ja immer noch ein weitgehend unbekanntes Land zu sein. Manchmal offenbar auch für seine Bewohner:innen. Verwundert werden Augen gerieben, wieso ausgerechnet hier Rechte, Rechtspopulisten so viel Resonanz erfahren. Warum ist hier die Unzufriedenheit mit allem, auch der Demokratie so hoch? Und wieso scheint die ostdeutsche Kanzlerin hier so gar niemanden stolz zu machen?

 

Es gibt also offenbar Gründe genug, Jahrestage zum Anlass zu nehmen, und dieses Land, diese Gesellschaft und seine Bewohner:innen unter die Lupe zu nehmen. Spätestens seit Didier Eribon ist biografisch eingefärbte Soziologie etwas, das sein Publikum erreicht. Und gut lesbar ist das dann ja oft ohnehin – bei Steffen Mau trifft das nun unbedingt zu.

 

Lütten Klein ist ein Plattenbauviertel, das wie so viele alles beinhaltete, was es zum Leben im realexistierenden Sozialismus brauchte. Wohnungen, natürlich, Einkaufsmöglichkeiten in der Nähe, ebenso Kindergarten und Schule, eine Poliklinik – eine Verbindung mit öffentlichen Verkehrsmitteln zum Rest der Stadt, zur Arbeit natürlich auch.

 

Mau beschreibt das Leben hier anhand von Zahlen, die das fast schon egalitäre in der Bewohnerschaft kennzeichnen. Hier wohnten Arbeiterfamilien, Lehrer:innen, Angestellte, Akademiker:innen – eine bunte Mischung. Er macht auch deutlich den Unterschied zu denen, die in der Altstadt in den Altbauten wohnten und zu deren Selbstverständnis.

 

Ich verkürze natürlich unendlich, wenn ich jetzt auf den Sprung verweise, der sich mit der Wende und den Folgen für die Menschen in ihren jeweiligen Lebenssituationen ergab: Jobverlust oder -wechsel, Wegzug von Bevölkerungsteilen, mit der Wiedervereinigung dann schließlich auch der Wechsel der Eliten, also derer, die gesellschaftlich Verantwortung tragen.

 

Bemerkenswert ist auch der Hinweis Maus darauf, dass erst am dem beginnenden Wahlkampf vor den Wahlen zur letzten Volkskammer der DDR das Nationale in die öffentliche Debatte Einzug hielt. Aus „Wir sind das Volk“ wurde „Wir sind ein Volk“. Interessant ist dieser Punkt, weil er in der Debatte über einen Rechtsruck im Osten deutlich macht, dass sehr kurz springt, wer meint, aus einer autoritären DDR einen autoritären oder rechtsaffinen Osten herleiten zu können.

 

Als geborener Ossi habe ich selbst etliche Jahre in den alten Bundesländern gelebt. Eine Zeitlang war ich mir sicher, was mich zum Ossi macht – und was vielleicht auch nicht. Nun lebe ich seit 20 Jahren wieder ununterbrochen im Osten, bin aber heute unsicherer denn je, was es nun ist, dieses Ostdeutsche, dass sich offensichtlich nicht mit dem Untergang der DDR erschöpft hat.

 

Steffen Mau bin ich dankbar für ein herrlich unaufgeregtes, im besten Sinne aufklärerisches Buch, das half, zumindest manche Fragen etwas klarer formulieren zu können.

 

Kurz und gut: Für einen kurzen Blick auf die ostdeutsche Transformationsgesellschaft oder einen Einstieg in eine längere Lesereise – lest Steffen Mau!

 

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