Samstag, 12. Dezember 2020

Jana Hensel: Wie alles anders bleibt. Geschichten aus Ostdeutschland


„Es war schlicht der Zufall, der mich zum journalistischen Schreiben brachte. Zuvor war ich eine Lesende gewesen, so wie eigentlich alle Frauen in meiner Familie Lesende sind.“ (Seite 9)

 

Es ist, glaube ich, fünf Jahre her, dass ich bei einer Podiumsdiskussion als Zeitzeuge auftreten durfte. Eine Ostberliner Geschichtswerkstatt hatte sich vorgenommen, die übliche Abfolge etwas zu durchbrechen. Nicht die Jungen sollten hier die Alten befragen, wie es früher so war. Dieses Mal wollte die Elterngeneration Fragen stellen – an die Generation derer, die die Wendezeit als Jugendliche und junge Erwachsene erlebt haben.

 

Klar, auch schon früher waren die Erfahrungen meiner Generation Thema in privaten Gesprächen, meist in Form von typischen Anekdoten, das klassische „Weißt du noch“ eben. Über mich als Teil einer Generation hatte ich da allerdings noch nicht viel weitergehender nachgedacht. Eher reihten sich Beobachtungen über die Jahre aneinander.

 

Bei dieser Diskussionsrunde nun wurden wir Zeitzeugen nicht nur nach unseren persönlichen Erlebnissen gefragt. Wie hatten wir die Zeit des Umbruchs erlebt? In welchem Verhältnis stand unser damaliges Freiheitsgefühl zu den schlagartig existenziell werdenden Sorgen und Nöten unserer Eltern? Wie habe diese Zeit uns persönlich geprägt? In diese Richtung gingen die Fragen.

 

Zugleich stand aber schnell der Begriff „3. Generation Ost“ ist Raum und eben auch Fragen danach, was von unseren persönlichen Erfahrungen verallgemeinerbar wäre. Möglicherweise ist es ja auch typisch, dass ich mich erst mit einigem Abstand überhaupt als Teil einer bestimmten Generation denken konnte. Sicher bin ich mir da aber nicht. 

 

Historisches, zumal über die DDR, hatte mich auch unabhängig von dieser Veranstaltung immer wieder interessiert. Gelesen habe ich dazu aber eher unsystematisch und sporadisch. Die aktuelle Jahrestagsflut an weiteren Veröffentlichungen zu Ostdeutschland, dem Ende der DDR und der Zeit der systemischen und gesellschaftlichen Transformation fällt mir aber nun doch gezielter ins Auge. Gleichzeitig fällt mir auf, dass ich immer wieder auf Jüngere als mich treffe, im Osten Geborene und Aufgewachsene, die Ostdeutschland nicht mehr als DDR kennengelernt haben, bei denen mich das Gefühl beschleicht, sie seien so viel mehr typische Ostdeutsche, Ossis im besten Sinne, als ich es selbst jemals war.

 

Das wiederum führt mich dann doch immer wieder zu der Frage, was meine Generation denn nun ausmacht? Welchen Blick auf Ostdeutschland aber Deutschland insgesamt bringen wir ein? Sind da Erfahrungen, Stimmen, die bei allem, was so über diesen Landstrich im Osten und seine Bewohner:innen berichtet wird, gehört und bedacht werden sollte? Bis hin zu der Frage, ob es einen identifikatorischen Aufbruch Ost bräuchte, um Bewegung in die schrumpfende, alternde, erstarrte Gesellschaft im Osten zu bringen? Und ja, das auch vor dem Hintergrund der erschreckenden Zustimmungsraten, die die AfD und das, was sie politisch vertreten hier erzielen.

 

Eines der Bücher, dass mich mit all diesen Fragen und vielen anderen mehr ordentlich durchgerüttelt hat, war der Gesprächsband von Jana Hensel und Wolfgang Engler („Wer wir sind. Die Erfahrung, ostdeutsch zu sein. Aufbau Verlag 2018). Neugierig geworden landete nun also auch dieser Band von Jana Hensel aus dem Jahr 2019 auf meinem Lesestapel.

 

Hier sind eine ganze Reihe journalistischer Texte von 2004 bis 2019 versammelt. Nach ihrem Debüt „Zonenkinder“ war Hensel, wie sie schreibt, eher zufällig dazu gekommen, journalistisch zu arbeiten – und sie blieb ihrem Thema Ostdeutschland treu. Obwohl uns vermutlich verschiedene politische Positionen und Schlussfolgerungen trennen, hab ich ihren Ton, ihren Blick auf dieses Land und die Leute sofort verstanden. Jana Hensel ist 1976 geboren, also ein gutes Jahr jünger als ich – aber eben eindeutig Teil der Generation Ost, als deren Teil ich mich inzwischen selbst diffus erkenne.

 

Hensel schreibt ihre Texte stets in persönlichem Tonfall. Es geht um ihren Blick, ihre Erfahrungen. Ich habe sehr genossen, sie bei ihrer Reise durch dieses Ostdeutschland zu begleiten. Für mich zumindest war die Brücke geschlagen und funktionierte das durch ihre Texte ausgelöste Nachdenken über dieses Etikett. Ich räume auch gern ein, dass mich derlei Sammelbände sonst nicht unbedingt erreichen. 

 

Kurz und gut: Dank Entschleunigung durch Corona und passend zur gern mal nachdenklich stimmenden Jahresendzeit nicke ich anerkennend zu diesem Buch von Jana Hensel. Lesen!

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