Sonntag, 20. Dezember 2020

Christoph Hein: Trutz



„In diesen Roman geriet ich aus Versehen oder vielmehr durch eine Bequemlichkeit.“ (Seite 7) 

Mit diesen Worten begrüßt der Erzähler in der Rahmenhandlung dieses Romans, der ein paar einfache Leute zwischen die berüchtigten Mahlsteine der Geschichte wirft. Im Hier und Heute trifft er auf einen grummeligen alten Mann, der eine Veranstaltung in bester besserwisserischer Altherrenmanier stört. Quasi aus Höflichkeit findet sich der Erzähler wieder bei einer ausführlichen Schilderung der Lebensgeschichte der Familie Trutz.

 

Der Vater des merkwürdigen Alten aus der Rahmenhandlung, Rainer Trutz, kam in jungen Jahren so ganz ohne jede Perspektive aus einem kleinen Kaff in Vorpommern ins trubelige Berlin der Weimarer Republik. Mit nicht mehr als seinem Talent fürs Schreiben lernt er eine Mitarbeiterin der sowjetischen Botschaft kennen. Diese Freundschaft wird sein Leben lang anhalten. Über diese Freundin kann er tatsächlich mit Schreiben sein Brot verdienen und sogar seine Frau, eine Gewerkschaftsmitarbeiterin, heiraten. Als sie mit ihrer beider Arbeit ins Visier der Nazis geraten, verhilft ihnen die gut vernetzte Freundin in letzter Minute zur Flucht – nach Moskau.

 

Doch auch im Arbeiterparadies geht es für sie wenig paradiesisch zu. Gewartet hat hier auf sie keiner. Statt zu schreiben, bleibt Trutz nichts weiter übrig, als sich einer Bauarbeiterkolonne anzuschließen, die buchstäblich die Drecksarbeiten beim Bau der Moskauer U-Bahn zu erledigen hat und bunt zusammengewürfelt ist aus Menschen, die in früheren Leben in anderen Ländern ähnlich wie Trutz sicher auch nicht von einer solchen Zukunft geträumt hätten. Während Trutz also im Akkord und in Schichten schuftet, bringt seine Frau das gemeinsame Kind zur Welt und erringt ganz nebenbei die Liebe ihrer Brigade in der Schokoladenfabrik, in der sie selbst schuften muss.

 

Maykl, Trutzens Sohn, ist schließlich niemand anderes als der Alte, den der Erzähler viele, viele Jahre später in Berlin kennenlernen wird.

 

Wiederum durch die Freundin der Familie Trutz machen sie die Bekanntschaft eines Moskauer Professors, der an einer uralten Mnemotechnik forscht, die zunächst auch für die Regierung interessant erscheint. Parallel zu einer Übungsgruppe mit Erwachsenen mit verschiedenen beruflichen Hintergründen unterrichtet der Professor auch Maykl und seinen eigenen Sohn. Die Jungs werden Freunde fürs Leben. Aber die große Geschichte dreht sich unerbittlich weiter und wieder gerät die junge Familie Trutz zwischen deren Mahlsteine.

 

Das Erinnern erscheint der sowjetischen Führung so gefährlich, dass der Professor per Verbannung aus der Geschichte getilgt wird und die Familie Trutz gleich mit. Rainer Trutz überlebt einen langen Marsch in den Gulag getrennt von seiner Familie nicht. Ein kleiner Lichtschimmer glimmt, als zumindest Maykl als junger Erwachsener aber als Waise über Moskau nach Deutschland umsiedeln darf – in das ostdeutsche Nachkriegsdeutschland.

 

Dank der Mnemotechnik des Professors landet Maykl schließlich nach dem Studium in einem Archiv. Aber dieses Nichtvergessenkönnen und -wollen lässt ihn nicht mehr los. Statt ein stilles Glück zu genießen führt ihn auch sein Weg direkt zwischen die Mahlsteine, die der Familie Trutz schon so viel an Hoffnung auf Zukunft zu Asche zermahlen haben.

 

Zu guter Letzt verhilft die Fähigkeit sich zu erinnern Maykl wenigstens dazu, dem Erzähler seine Geschichte darlegen zu können. Hier schließt sich der Kreis.

 

Der Roman ist ein ziemlicher Ritt durch ein halbes Jahrhundert. Das Schicksal der Familie Trutz bietet auch keinerlei Trost. Wie gefährlich Erinnerung in Systemen wie denen werden kann, denen die Familie sich ausgesetzt sah, ist eine bittere Mahnung – aber auch eine Hoffnung. Denn ohne Erinnerung, und sei sie noch so bitter erkauft, gibt es nicht einmal mehr Hoffnung auf eine Zukunft.

 

Christoph Hein erzählt hier mit einer Stimme, die weniger poetisch als dokumentarisch wirkt. Die zeitlichen Sprünge fordern beim Lesen mitunter. Anders als manchen Rezensenten hatte ich aber den Eindruck, dass sie das Ausgeliefertsein der Familie Trutz atmosphärisch gestützt haben. Ich gebe aber auch gern zu, dass ich Heins Romane ohnehin gern mag.

 

Kurz und gut: Eine große Geschichte ganz unaufdringlich erzählt. Lest Christoph Hein! ;)

 

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