Sonntag, 22. September 2024

Lea Susemichel/ Jens Kastner: Identitätspolitiken. Konzepte & Kritiken in Geschichte & Gegenwart der Linken


„Auch wenn es Identitätspolitik freilich vorher schon gegeben hat: Den Begriff ‚Identitätspolitik‘ hat erst das Combahee River Collective 1977 geprägt.“ (Seite 7)

Ich klicke jetzt den Auszählungsstand der Landtagswahl in Brandenburg einfach weg und nehme mir lieber dieses Büchlein vor, nach dessen Lektüre ich hier noch ein paar Zeilen schreiben wollte.

Dass Rechtsextreme bis hin zu den Marktradikalen seit Jahren einen echt merkwürdigen Fetisch in Sachen Gendern pflegen, ist ja sattsam bekannt. Vor der letzten Bundestagswahl stieß dann noch Sarah Wagenknecht mit ihrem Buch „Die Selbstgerechten“ in dieser Riege dazu – und schwups gab es eine schöne breite Debatte über diese linken Identitätspolitiken, die sich insbesondere am Gendern aber durchaus auch an Rassismusdebatten hochzogen. Letzteres scheint ja ohnehin für diese breite politische Palette (siehe oben) ein weiterer obsessiver Fetisch zu sein.

Die Rede war und ist vom „linksgrün-versifften“ Mainstream, der zur „Meinungsdiktatur“ führe, bis dahin, dass linke Identitätspolitiken den Klassenkampf verhindern würden. Was für eine abgefahrene Mischung, wenn man sich das mal so anschaut.

Dieser schmale Band bietet einen wirklich gut lesbaren kurzen Gang durch die Theoriegeschichte, die sich hinter diesen Debatten verbirgt. Und der tatsächlich undogmatische Blick des Autor:innenduos erhellt so einiges, wenigstens für meinen Geschmack.

Einfache Erkenntnis zum Beispiel: Es ist gar nicht von vorneherein schlimm, wenn Menschen sich ihrer Identitäten (die durchaus mehrfach sein können) bewusst werden und entsprechend überhaupt erstmal eigene Interessen benennen können. Die gesellschaftlichen Fortschritte, die zum Beispiel durch die Frauenbewegungen, antirassistische Bewegungen bis hin zu queeren Bewegungen erreicht werden konnten, sind zumindest aus meiner Sicht nicht kleinzureden. All das wäre ohne Identitätspolitiken nicht möglich gewesen.

Vollkommen zurecht verweisen die Autor:innen auch darauf, dass es auch in der Arbeiter:innenbewegung sehr wohl den Ansatz gab, eine gemeinsame kulturelle Klammer – also eine gemeinsame Identität zu entwickeln. Das sei mal mit Blick auf das o.g. Klassenkampfargument angemerkt.

So weit, so gut. Ganz unaufgeregt berichtet der Band aber eben auch davon, dass die Gefahr von sich bildenden Identitäten immer auch die Gefahr des Ausschlusses in sich bergen, weil Identitäten etwas beschreiben, was ich bin, aber andere nicht sind. Die Frage kann ja hier nur sein, warum das zwingend ein Gegeneinander sein sollte? Mir zumindest fallen sehr viel mehr Beispiele von grundsätzlichen Gegner:innen linker Identitätspolitiken ein, die das propagieren als Vertreter:innen eben solcher Politiken. Komisch, eigentlich.

Es führt natürlich über diesen Band hinaus, aber was ich auch nicht so recht nachvollziehen kann: Wenn linke Identitätspolitiken dazu führen, sprachsensibler zu kommunizieren, Diskriminierungen besser zu erkennen und vermeiden zu können, wie sollte es dann gegen diese neurechte/rechtsextreme/rechtspopulistische Diskursverschiebung helfen, genau diese Fortschritte nun zu verdammen? Seit wann hilft es gegen Nazis, „Sprachverbote“ zu verdammen, die niemand ausgesprochen hat? (Ok, jetzt schlägt dann doch der Eindruck der heutigen und letzten Landtagswahlen im Osten durch.)

Auch das sei erwähnt, weil es im Buch ebenso thematisiert wird: Natürlich gibt es auch Debattenstränge, die tatsächlich Betroffenengruppen immer zersplitterter werden lassen und einen Hang dazu haben, Ausschlüsse mehr in den Mittelpunkt zu stellen als Überlegungen dazu, wie das Ganze denn gesellschaftlich wieder zusammenkommen könne. Ich kann allerdings auch nicht wahrnehmen, dass diese übermächtig oder auch nur ansatzweise mehrheitsfähig wären.

Wer all das an Theoriearbeit, die in diesem Buch profund vorgestellt wird, in Bausch und Bogen verdammen wollte, sollte zugleich beantworten, wie dem offenkundigen und derzeit erfolgreichen Kulturkampf von rechts, der nichts anderes als Identitätspolitik ist, zu begegnen sei.

Ich finde ja, dass ein Blick auf den eigenen Wertekompass da klare Antworten geben kann: Andere Menschen zu diskriminieren ist schlecht, besser werden und dazulernen zu wollen, ist gut. Find ich jetzt nicht so schwierig. 😉

Kurz und gut: Gutmenschenlektüre, und die ist gut. Also lesen! 😉

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