Freitag, 25. Oktober 2024

David Graeber/ David Wengrow: Anfänge. Eine neue Geschichte der Menschheit


„Unwiederbringlich ist der größte Teil der Menschheitsgeschichte für uns verloren.“ (Seite 9)

Die längste Zeit der Menschheitsgeschichte – also seit es uns als Spezies gibt – waren Stadtschreiber:innen, Archive, Kanzleien, Museen und was noch alles dafür sorgt, dass Wissen über das, was war, erhalten bleibt, schlicht nicht existent. Wollen wir heute wissen, wie wir als Menschheit wurden, was wir heute sind, sind wir auf Archäolog:innen und Anthropolog:innen wie die beiden Autoren dieses Bandes angewiesen. Und auf zunehmend feinere technische, chemische etc. Methoden, um erfassen zu können, was vielleicht doch noch die Zeiten überdauert hat.

Den zu den verschiedenen Zeiten lebenden Menschen kam ihre jeweilige Welt wie auch uns vermutlich ziemlich unerschütterlich in ihren Grundfesten vor. Der Mensch sei so, wie man ihn halt kennt, die Gesellschaft funktioniere desgleichen. Es ist meist schwer sich vorzustellen, dass alles auch mal anders gewesen sein könnte oder auch wieder werden könnte.

Auf modern übersetzt könnte das lauten: Der Mensch ist halt gierig und muss durch Gesetze und Normen im Zaum gehalten werden. Es gäbe immer Menschen die reicher sind als andere, oben und unten – Ungleichheit eben. Aber entspricht das tatsächlich der Entwicklung der Menschheit?

Der Band untersucht nicht, wann die Ungleichheit unter den Menschen in die Welt kam oder warum. Aber er hinterfragt, ob es denn unabänderlich gewesen sei, dass mit dem Aufkommen von Ackerbau etc. die Ungleichheit der Menschen zwangsläufig aufgekommen sei.

Was wäre denn, wenn das, was wir in den vielleicht letzten 5000 Jahren so an Zivilisation hatten, so gar nicht dem entspräche, wie Menschen in den zehntausenden Jahren zuvor zusammengelebt haben?

Anhand vieler Erkenntnisse aus Archäologie und Anthropologie entsteht ein Bild, in dem Menschen die verschiedensten Arten zusammenzuleben ausprobiert haben. Es gab Zeiten, in denen hierarchische Gesellschaftsformen bevorzugt wurden und andere, in denen das Zusammenleben offenbar auch sehr gut in losen, eher anarchischen Zusammenschlüssen erfolgte. Das verblüffendste scheint zu sein, dass Menschen offenbar sehr lange Zeit zwischen den verschiedensten Formen hin und her und zurück gewechselt sind – je nachdem, was gerade erforderlich war. Jagdzeiten waren so wohl eher mit straffer Organisation und Hierarchien verbunden, aber sie waren dabei wohl die Ausnahme, nicht die Regel.

Sehr schön fand ich die Beschreibung, dass zu diesen fluiden Wechseln wohl auch gehörte, dass Machtpositionen dabei nur auf Abruf Gültigkeit beanspruchen konnten. Eben noch Anführer der Jagdtruppe und kurze Zeit einfaches Mitglied der Gemeinschaft wie alle anderen auch, um mal bei dem Beispiel zu bleiben.

Ein anderes Beispiel beschreibt, dass es im frühen Amerika Stämme mit Königen gab, die durchaus absolute Macht ausüben konnten. Aber eben nur da, wo sie gerade selbst vor Ort waren. Hatten die Untergebenen darauf keine Lust, wechselten sie den Ort.

Bisher wusste ich ebenso nicht, dass frühe Städte mitnichten zwangsläufig mit starren gesellschaftlichen Hierarchien einhergingen. Offenbar funktionierten die so gar ganz gut ohne Verwaltungsapparat, der zur Machtausübung diente. Hierarchische Gesellschaften mit Königen an der Spitze waren eher Randerscheinungen, die an den Rändern ertragreicher Gegenden existierten – eine Ausnahme eben.

Was könnte all das Wissen für uns heute bedeuten? Eine Lektion wäre möglicherweise, die Art, wie wir Gesellschaft denken, nicht für unabänderlich zu halten. Wenn Menschen so viele zehntausend Jahre auch gut ohne fest zementierte Ungleichheit zurechtkamen, dann wäre durchaus auch denkbar, dass Alternativen zu unserer Welt heute geben kann. Und die widersprächen mitnichten grundsätzlich der Natur des Menschen, wie insbesondere in aktuellen politischen Fragen gern von ganz rechts behauptet wird.

Oder, um einen politischen Slogan aufzugreifen – eine andere Welt ist möglich.

Ein besonderes Augenmerk des Bandes liegt auf dem Blick, den von Europa aus kolonisierte Menschen – die Barbaren aus der Sicht der Europäer – auf eben dieses Europa und die Gesellschaften dort hatten. In den Texten scheint es so, als stünde der stolzen europäischen Tradition eine womöglich viel weltweisere und weiter in die Vergangenheit reichende Kenntnis über das Zusammenleben von Menschen gegenüber. Es geht den Autoren hier nicht um einen romantisierenden Blick auf die „unverbildeten, naiven Eingeborenen“, sondern vielmehr darum zu zeigen, wie einengend der europäische Blick auf die Menschheitsgeschichte womöglich ist. Das sind ganz großartige Anregungen, die hier aufgeschrieben wurden.

Kurz und gut: Inspirierend, lesbar geschrieben und eigentlich ganz dicht an aktuellen Menschheitsfragen dran – lesen!

(Übersetzung: Henning Dedekind, Helmut Dierlamm, Andreas Thomsen)

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