„Eines nasskalten Aprilmorgens bestieg Glass, die linke Hand
am Griff ihres Koffers aus abgewetztem Lederimitat, die rechte am Geländer
einer wackeligen Gangway, einen Ozeanriesen, der im Hafen von Boston zum
Auslaufen nach Europa bereitlag.“ (Seite 9)
Glass flüchtete hochschwanger aus ihrem Leben in Amerika.
Mit ihrer Ankunft in einer namenlosen Kleinstadt purzeln zugleich die Zwillinge
Dianne und Phil in die Welt. Dies ist die Geschichte des siebzehnjährigen Phil
und der Suche nach seiner eigenen Mitte der Welt.
Gemeinsam mit der unbändig freiheitsliebenden Glass und der
geheimnisvoll starken Dianne lebt Phil in einer zunehmend verfallenden Villa
inmitten eines verwildernden Gartens am Rande der Stadt der kleinen Leute. Die
kleinen Leute, das sind die anderen, für die diese unkonventionelle Familie und
deren ungewöhnliche Freunde ein dauerhafter Dorn im Auge sind. Dass Glass die
Meinung dieser Leute kein Stück schert, bestimmt zugleich das Leben und
Aufwachsen der Zwillinge.
Nie können sie einfach nur dabei sein. Immer haftet ihnen,
wenn sie mit den Kindern der kleinen Leute zu tun haben, ein magisches Außenseitertum
an. Nur dass Dianne, die mit Tieren zu
sprechen scheint, damit anscheinend viel besser klar kommt als ihr Bruder Phil.
Der erlebt sich selbst fast mehr als Zuschauer seines
eigenen Lebens, das geprägt ist von den wirklich starken Charakteren um ihn
herum. Neben Glass und Dianne sind da vor allem Tereza und ihre Freundin und
natürlich Kat, Kameradin und Vertraute – die einzige Verbindung zur Welt der
Kinder der kleinen Leute, in der sie selbst als Tochter des Schuldirektors ein
Faszinosum darstellt.
In diesem Jahr aber drängt alles auf Veränderung, ohne dass
Phil so recht wüsste, warum und in welche Richtung. Die innige Verbindung die
Dianne, die keine Worte brauchte, ist schon eine ganze Weile abgebrochen. Ein
stumm zwischen ihr und Glass ausgetragener Krieg, dessen Anlass und Auslöser
ihm bis heute verborgen blieben, schwelt weiter und droht offen auszubrechen. Und
dann verliebt er sich auch noch in Nicholas, den Neuen in der Schule, den
stillen Läufer.
Am Ende dieses Jahres wird Phil Entscheidungen treffen und
den Beobachterposten in seinem eigenen Leben aufgeben müssen.
Dies ist ein Jugendroman und ein Roman für Erwachsene.
Steinhöfel erzählt anrührend, ohne jemals kitschig zu werden. Und er trifft mit
so vielen Szenen mitten ins Herz:
„Was bist du dir wert, Phil?“
„Ich weiß nicht.“
„Wen liebst du mehr, dich selbst oder ihn?“
„Ich weiß nicht.“
Glass lässt meine Hand los und steht auf. „Nun, sobald du es
weißt, hast du kein Problem mehr.“
„Danke für die großartige Hilfe!“
„Gern geschehen.“ Ihr Blick wird weich. „Ich meine es ernst,
Phil. Mach dich nicht klein, nur weil du Nicholas nicht verlieren willst.“ In
der Tür dreht sie sich noch einmal zu mir um. „Und bleib nicht ewig lang in der
Wanne sitzen, Darling. Du wirst ganz schrumpelig.“ (Seite 403)
Unzählige junge Schwule haben wie ich selbst auch dieses
Buch verschlungen, und wir fühlten uns verstanden. Dabei, und das ist ganz
sicher die große Kunst von Andreas Steinhöfel, ist „Die Mitte der Welt“ nicht
einmal vordergründig eine Coming-Out-Story. Klar, die Liebesgeschichte von Phil
und Nicholas nimmt einen wichtigen Teil des Buches ein. Dass es eine
Liebesgeschichte zwischen zwei jungen Männern ist, bleibt aber tatsächlich
nahezu unwichtig. Es wird mit einer Selbstverständlichkeit erzählt, dass man
sich beim Lesen nicht einmal fragt, ob man nun einen schwulen Roman liest.
Das Gleich lässt sich im Übrigen auch über die wirklich
bildgewaltige Verfilmung des Romans sagen, die in diesem Jahr in die Kinos kam.
Natürlich wurde die Handlung des Romans für den Film auf
Drehbuchformat gebracht. Und ja, grandiose Szenen des Romans und faszinierende
Figuren aus dem Buch fielen dabei raus. Die Übersetzung in das Medium Film ist
aber sowohl mit der Geschichte wie auch mit der Besetzung der Figuren
unglaublich gut gelungen. Ich habe nichts vermisst und hatte auch im Kino das
gute „Steinhöfel-Gefühl“.
Was ist schon normal? Mit verschmitztem Lächeln, lässig mit
den Schultern zuckend, in den Augen funkelnde Lebensfreude und mit Neugierde
auf die Welt da draußen – so begegnen Roman und Film dieser Frage. Und ganz
sicher habe ich diesen Roman nicht zum letzten Mal gelesen und den Film nicht
zum letzten Mal gesehen!
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