Donnerstag, 22. Dezember 2016

Andreas Steinhöfel: Die Mitte der Welt



„Eines nasskalten Aprilmorgens bestieg Glass, die linke Hand am Griff ihres Koffers aus abgewetztem Lederimitat, die rechte am Geländer einer wackeligen Gangway, einen Ozeanriesen, der im Hafen von Boston zum Auslaufen nach Europa bereitlag.“ (Seite 9)

Glass flüchtete hochschwanger aus ihrem Leben in Amerika. Mit ihrer Ankunft in einer namenlosen Kleinstadt purzeln zugleich die Zwillinge Dianne und Phil in die Welt. Dies ist die Geschichte des siebzehnjährigen Phil und der Suche nach seiner eigenen Mitte der Welt.

Gemeinsam mit der unbändig freiheitsliebenden Glass und der geheimnisvoll starken Dianne lebt Phil in einer zunehmend verfallenden Villa inmitten eines verwildernden Gartens am Rande der Stadt der kleinen Leute. Die kleinen Leute, das sind die anderen, für die diese unkonventionelle Familie und deren ungewöhnliche Freunde ein dauerhafter Dorn im Auge sind. Dass Glass die Meinung dieser Leute kein Stück schert, bestimmt zugleich das Leben und Aufwachsen der Zwillinge.

Nie können sie einfach nur dabei sein. Immer haftet ihnen, wenn sie mit den Kindern der kleinen Leute zu tun haben, ein magisches Außenseitertum  an. Nur dass Dianne, die mit Tieren zu sprechen scheint, damit anscheinend viel besser klar kommt als ihr Bruder Phil.

Der erlebt sich selbst fast mehr als Zuschauer seines eigenen Lebens, das geprägt ist von den wirklich starken Charakteren um ihn herum. Neben Glass und Dianne sind da vor allem Tereza und ihre Freundin und natürlich Kat, Kameradin und Vertraute – die einzige Verbindung zur Welt der Kinder der kleinen Leute, in der sie selbst als Tochter des Schuldirektors ein Faszinosum darstellt.

In diesem Jahr aber drängt alles auf Veränderung, ohne dass Phil so recht wüsste, warum und in welche Richtung. Die innige Verbindung die Dianne, die keine Worte brauchte, ist schon eine ganze Weile abgebrochen. Ein stumm zwischen ihr und Glass ausgetragener Krieg, dessen Anlass und Auslöser ihm bis heute verborgen blieben, schwelt weiter und droht offen auszubrechen. Und dann verliebt er sich auch noch in Nicholas, den Neuen in der Schule, den stillen Läufer.

Am Ende dieses Jahres wird Phil Entscheidungen treffen und den Beobachterposten in seinem eigenen Leben aufgeben müssen.

Dies ist ein Jugendroman und ein Roman für Erwachsene. Steinhöfel erzählt anrührend, ohne jemals kitschig zu werden. Und er trifft mit so vielen Szenen mitten ins Herz:

„Was bist du dir wert, Phil?“
„Ich weiß nicht.“
„Wen liebst du mehr, dich selbst oder ihn?“
„Ich weiß nicht.“
Glass lässt meine Hand los und steht auf. „Nun, sobald du es weißt, hast du kein Problem mehr.“
„Danke für die großartige Hilfe!“
„Gern geschehen.“ Ihr Blick wird weich. „Ich meine es ernst, Phil. Mach dich nicht klein, nur weil du Nicholas nicht verlieren willst.“ In der Tür dreht sie sich noch einmal zu mir um. „Und bleib nicht ewig lang in der Wanne sitzen, Darling. Du wirst ganz schrumpelig.“ (Seite 403)

Unzählige junge Schwule haben wie ich selbst auch dieses Buch verschlungen, und wir fühlten uns verstanden. Dabei, und das ist ganz sicher die große Kunst von Andreas Steinhöfel, ist „Die Mitte der Welt“ nicht einmal vordergründig eine Coming-Out-Story. Klar, die Liebesgeschichte von Phil und Nicholas nimmt einen wichtigen Teil des Buches ein. Dass es eine Liebesgeschichte zwischen zwei jungen Männern ist, bleibt aber tatsächlich nahezu unwichtig. Es wird mit einer Selbstverständlichkeit erzählt, dass man sich beim Lesen nicht einmal fragt, ob man nun einen schwulen Roman liest.

Das Gleich lässt sich im Übrigen auch über die wirklich bildgewaltige Verfilmung des Romans sagen, die in diesem Jahr in die Kinos kam.

Natürlich wurde die Handlung des Romans für den Film auf Drehbuchformat gebracht. Und ja, grandiose Szenen des Romans und faszinierende Figuren aus dem Buch fielen dabei raus. Die Übersetzung in das Medium Film ist aber sowohl mit der Geschichte wie auch mit der Besetzung der Figuren unglaublich gut gelungen. Ich habe nichts vermisst und hatte auch im Kino das gute „Steinhöfel-Gefühl“.

Was ist schon normal? Mit verschmitztem Lächeln, lässig mit den Schultern zuckend, in den Augen funkelnde Lebensfreude und mit Neugierde auf die Welt da draußen – so begegnen Roman und Film dieser Frage. Und ganz sicher habe ich diesen Roman nicht zum letzten Mal gelesen und den Film nicht zum letzten Mal gesehen!

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