Sonntag, 15. Januar 2017

Édouard Louis: Das Ende von Eddy



„An meine Kindheit habe ich keine einzige glückliche Erinnerung. Das soll nicht heißen, ich hätte in all den Jahren niemals Glück oder Freude empfunden. Aber das Leiden ist totalitär: Es eliminiert alles, was nicht in sein System passt.“ (Seite 11)

Im letzten Jahr, also 2016, stieß in dem Sammelband „Wie wir leben wollen“ (herausgegeben von Matthias Jügler im Suhrkamp Verlag) auf das Manifest für eine intellektuelle und politische Gegenoffensive, das ein Èdouard Louis gemeinsam mit Geoffroy de Lagasnerie verfasst hatte.

Es heißt ja nicht ohne Grund, dass Bücher immer wieder zu anderen Büchern führen. Und so gelangte schließlich der Debutroman des jungen Èdouard Louis auf meinen Bücherstapel. Beim Aufschlagen des Buches fand ich die Widmung des Autors an Didier Eribon. Dessen Werk Rückkehr nach Reims wiederum war zu diesem Zeitpunkt gerade in Deutschland bereits in aller Munde und lag auch auf dem Lesestapel – nun direkt neben dem Ende von Eddy. Ich möchte mal an einen Zufall glauben. ^^

So ganz ohne Bezug auf das bereits 2009 erschienene Werk von Didier Eribon konnte ich dann den Roman von 2014 tatsächlich auch nicht lesen. Zu offensichtlich sind die Parallelen zwischen beiden Biografien. Sie stammen aus wenig großstädtisch geprägten Gegenden im Norden Frankreichs und wuchsen in armen Verhältnissen auf. Beide erarbeiteten sich ihren sozialen Aufstieg und die Flucht aus der sozialen Klasse ihrer Familien über Bildung. Für beide ermöglichte diese Flucht auch erst das Ausleben ihrer Homosexualität. Louis ist Anfang der neunziger Jahre geboren, 39 Jahre nach Eribon.

Erschütternd ist, wie wenig sich offenbar geändert hat. Beide beschreiben ein Arbeitermilieu, dem zu entfliehen kaum möglich zu sein scheint. Eine harte Lebenswirklichkeit, die den Menschen nur die Chance lässt sich buchstäblich durchzuboxen; ein Schulsystem, das nach sozialer Herkunft aussiebt; Menschen, die von ihren alltäglichen Sorgen und Nöten bedrängt kaum eine Wahl haben, weiter als bis zum nächsten Tag zu blicken und an kleinen Träumen festzuhalten – all das scheint auch zum Ende des 20. Jahrhunderts und zu Beginn des 21. bittere Realität auch im Herzen Europas zu sein.

Eindringlich berichtet Louis von der doppelten Stigmatisierung als Angehöriger seiner sozialen Klasse und innerhalb dieser als Homosexueller. Eddy erlebt Gewalt und Ausgrenzung und kann sich dem nur durch Flucht über Bildung entziehen. Die Familie, die Teil der Welt ist, der Eddy sich zu entziehen sucht, spart sich hier zugleich diese Hilfe für Eddy vom wenigen ab, das sie hat.

Am Ende des Romans wird Eddy es auf das Gymnasium geschafft haben. Die letzten Seiten liefern aber auch den Ausblick, dass auch wenn er hier unverkrampfter mit seiner Sexualität wird umgehen können, die Welt für ihn keine heile werden wird. Denn seine Herkunft kann er im Vergleich zu seinen Mitschülern aus besser gestellten Familien eben nicht einfach ablegen. Auch dies findet sich bei Eribons Schilderungen wieder.

Es ist unglaublich, wie sehr die Themen Armut und Klassen in der letzten Zeit wieder öffentlichkeitswirksam geworden sind. Zeitgleich erleben wir öffentliche Diskurse, in „unsere Armen“ gegen Flüchtlinge ausgespielt werden. Die Verbindung mit der doppelten Stigmatisierung der Homosexualität verweist darauf, wie sehr hier eine Sündenbockstrategie um sich greift, bei der es eben erwartbar ist, dass Flüchtlinge auch jederzeit gegen jede beliebige andere Minderheit als Schuldige ausgetauscht werden können.

Beim Überlegen, was ich zu diesem Werk von Louis sagen kann, muss ich feststellen, dass mich der Roman weniger als Roman sondern eher als Bestandteil dieses derzeit so virulenten Diskurses bewegt hat. Das mag auch daran liegen, dass der Tonfall des Buches auf mich eher distanziert, reportagenhaft gewirkt hat. Es ist sicher keine soziologische Studie, erinnert aber doch in der Art der Beschreibungen an diesen Blickwinkel. Insofern glaube ich, dass der Roman wohl eher in diesem Kontext haften bleiben wird und weniger als literarisches Werk.

Und natürlich hat das Buch eine Leseempfehlung verdient – am besten im Zusammenhang mit anderen Texten zu diesen Themen. ;)

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