„An meine Kindheit habe ich keine einzige glückliche
Erinnerung. Das soll nicht heißen, ich hätte in all den Jahren niemals Glück
oder Freude empfunden. Aber das Leiden ist totalitär: Es eliminiert alles, was
nicht in sein System passt.“ (Seite 11)
Im letzten Jahr, also 2016, stieß in dem Sammelband „Wie wir
leben wollen“ (herausgegeben von Matthias Jügler im Suhrkamp Verlag) auf das Manifest für eine intellektuelle und
politische Gegenoffensive, das ein Èdouard Louis gemeinsam mit Geoffroy de
Lagasnerie verfasst hatte.
Es heißt ja nicht ohne Grund, dass Bücher immer wieder zu anderen
Büchern führen. Und so gelangte schließlich der Debutroman des jungen Èdouard
Louis auf meinen Bücherstapel. Beim Aufschlagen des Buches fand ich die Widmung
des Autors an Didier Eribon. Dessen Werk Rückkehr
nach Reims wiederum war zu diesem Zeitpunkt gerade in Deutschland bereits in
aller Munde und lag auch auf dem Lesestapel – nun direkt neben dem Ende von Eddy. Ich möchte mal an einen
Zufall glauben. ^^
So ganz ohne Bezug auf das bereits 2009 erschienene Werk von
Didier Eribon konnte ich dann den Roman von 2014 tatsächlich auch nicht lesen.
Zu offensichtlich sind die Parallelen zwischen beiden Biografien. Sie stammen
aus wenig großstädtisch geprägten Gegenden im Norden Frankreichs und wuchsen in
armen Verhältnissen auf. Beide erarbeiteten sich ihren sozialen Aufstieg und
die Flucht aus der sozialen Klasse ihrer Familien über Bildung. Für beide ermöglichte
diese Flucht auch erst das Ausleben ihrer Homosexualität. Louis ist Anfang der
neunziger Jahre geboren, 39 Jahre nach Eribon.
Erschütternd ist, wie wenig sich offenbar geändert hat. Beide
beschreiben ein Arbeitermilieu, dem zu entfliehen kaum möglich zu sein scheint.
Eine harte Lebenswirklichkeit, die den Menschen nur die Chance lässt sich
buchstäblich durchzuboxen; ein Schulsystem, das nach sozialer Herkunft
aussiebt; Menschen, die von ihren alltäglichen Sorgen und Nöten bedrängt kaum
eine Wahl haben, weiter als bis zum nächsten Tag zu blicken und an kleinen
Träumen festzuhalten – all das scheint auch zum Ende des 20. Jahrhunderts und
zu Beginn des 21. bittere Realität auch im Herzen Europas zu sein.
Eindringlich berichtet Louis von der doppelten
Stigmatisierung als Angehöriger seiner sozialen Klasse und innerhalb dieser als
Homosexueller. Eddy erlebt Gewalt und Ausgrenzung und kann sich dem nur durch Flucht
über Bildung entziehen. Die Familie, die Teil der Welt ist, der Eddy sich zu
entziehen sucht, spart sich hier zugleich diese Hilfe für Eddy vom wenigen ab,
das sie hat.
Am Ende des Romans wird Eddy es auf das Gymnasium geschafft
haben. Die letzten Seiten liefern aber auch den Ausblick, dass auch wenn er
hier unverkrampfter mit seiner Sexualität wird umgehen können, die Welt für ihn
keine heile werden wird. Denn seine Herkunft kann er im Vergleich zu seinen
Mitschülern aus besser gestellten Familien eben nicht einfach ablegen. Auch
dies findet sich bei Eribons Schilderungen wieder.
Es ist unglaublich, wie sehr die Themen Armut und Klassen in
der letzten Zeit wieder öffentlichkeitswirksam geworden sind. Zeitgleich
erleben wir öffentliche Diskurse, in „unsere Armen“ gegen Flüchtlinge
ausgespielt werden. Die Verbindung mit der doppelten Stigmatisierung der
Homosexualität verweist darauf, wie sehr hier eine Sündenbockstrategie um sich
greift, bei der es eben erwartbar ist, dass Flüchtlinge auch jederzeit gegen
jede beliebige andere Minderheit als Schuldige ausgetauscht werden können.
Beim Überlegen, was ich zu diesem Werk von Louis sagen kann,
muss ich feststellen, dass mich der Roman weniger als Roman sondern eher als
Bestandteil dieses derzeit so virulenten Diskurses bewegt hat. Das mag auch
daran liegen, dass der Tonfall des Buches auf mich eher distanziert,
reportagenhaft gewirkt hat. Es ist sicher keine soziologische Studie, erinnert
aber doch in der Art der Beschreibungen an diesen Blickwinkel. Insofern glaube
ich, dass der Roman wohl eher in diesem Kontext haften bleiben wird und weniger
als literarisches Werk.
Und natürlich hat das Buch eine Leseempfehlung verdient – am
besten im Zusammenhang mit anderen Texten zu diesen Themen. ;)
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