Montag, 8. Januar 2018

Maximilien Le Roy/ Loïc Locatelli Kournowsky: Überlebt!



„Meine Freunde, es ist sicherlich das letzte Mal, dass ich mich an euch wende. Die Luftstreitkräfte haben die Sendeanlagen von Radio Portales und Radio Corporación bombardiert. Es liegt keine Bitterkeit in meinen Worten, nur Enttäuschung …“ (Seite 43)

Am 11. September 1973 putschte das chilenische Militär unter dem späteren Diktator Augusto Pinochet gegen den demokratisch gewählten, linken Präsidenten Salvador Allende. Während der Präsidentenpalast La Moneda von den Putschisten umstellt und unter Feuer genommen wurde, wendete sich der Präsident ein letztes Mal in einer Radioübertragung an das Volk. Diese Rede zieht sich als roter Faden durch die erste Hälfte des Comics – immer wieder neu ansetzend, legt sie sich über die verschiedenen Stationen der Erzählung. In jeder Szene, in der sie erneut aus dem Radio schallt, sich über die Stadt, das Land und die Panel schwingt, kommt ein weiterer Absatz hinzu. Bis der Palast gestürmt ist und Salvador Allende, der sich nicht ergeben mochte, seinem Leben selbst ein Ende setzt.

„Überlebt!“ ist aber nicht die Geschichte vom Präsidenten Salvador Allende sondern die einer Überlebenden. Die Story von Maximilien Le Roy basiert auf den Erinnerungen von Carmen Castillo, die der linksextremen MIR angehörte. Sie überlebte und reiste aus ihrem Exil in Frankreich Jahre später zurück nach Chile, um den Ort zu besuchen, an dem ihr Partner Miguel Enriquez erschossen wurde.

Wir erleben sie im Jetzt dieses Besuches und tauchen gemeinsam mit ihr in die Erinnerungen ein. Die Zeit der Debatten und Diskussionen über die strategische Ausrichtung der Linken in Chile, als der Wahlsieg Allendes noch Zukunftsmusik und so nicht absehbar war; die drei intensiven Jahre der Regierung Allendes, in denen der Kontakt zur extremen Linken nie abbrach und sich die zunehmende Gegenwehr der Rechten abzeichnete; die Zeit des Putsches und der Verfolgung der in den Untergrund abgetauchten linken Aktivist*innen. All diese Zeitebenen der Story werden verwoben durch die Stimme Allendes aus dem Radio. Die stete Wiederholung ergibt einen intensiven Rhythmus, der mich unweigerlich in seinen Bann zog.

Nach dem Tod Allendes konzentrieren sich die Erinnerungen auf die Flucht und das Leben im Untergrund. Nach und nach werden Freunde der Untergetauchten denunziert, enttarnt und, wenn sie nicht gleich ermordet wurden, gefoltert, um die Aufenthaltsorte der anderen zu erfahren. So zieht sich die Schlinge immer enger, bis schließlich auch Carmen und Miguel gefasst werden. Miguel überlebt das nicht, die schwangere Carmen kommt mit dem Leben davon und wird schließlich aus dem Land verstoßen.

Im Exil versucht sie mit ihren Erinnerungen zu leben und wird von anderen Überlebenden als Witwe eines Helden gefeiert. Während sie selbst mit diesem Status hadert, versucht sie dennoch auf diese Art, die Erinnerung an die Ermordeten und Verschwundenen wach zu halten. Schließlich darf sie 1987 Chile wieder besuchen. Sie entscheidet sich, diesen Besuch nicht als Bühne zu nutzen, sondern nur gemeinsam mit einer Freundin die Orte ihres Lebens im Untergrund aufzusuchen. In einem ersten Impuls beschließt sie, das Haus, in dem sie zuletzt lebte und gemeinsam mit Miguel von den Häschern des Regimes gestellt wurde, zu kaufen. Ein Museum, ein Erinnerungsort für Miguel Enriquez solle es werden. Erst in einem Gespräch mit einem linken Aktivisten der späteren Generation, viel jünger als sie, lässt sie sich umstimmen, damit die Toten zwar nicht vergessen werden aber einen Neuanfang nach Pinochet und damit eine gesellschaftliche Aussöhnung auch nicht unmöglich machen. So fand sie ihren Weg zwischen Erinnerung und dem Blick nach vorn.

„Überlebt!“ ist kein Comic, der sich schnell lesen und dann Beiseite legen lässt. Das Ineinandergreifen der verschiedenen Zeitebenen zwingt immer wieder zum Innehalten und entwickelt zugleich einen intensiven Sog. Dabei spricht aus den Erinnerungen zwar persönlich erfahrenes Leid aber kein wehleidiges Klagen, sondern eher der Stolz darauf, was so viele aufrichtige Menschen in Chile bei allen Niederlagen und Rückschlägen erreichen konnten.

Kournwskys Zeichenstil passt sich dem in Form und Farbgebung bestens an. Er findet den passenden Rhythmus der Bilder, ohne im Heldenpathos zu verschwimmen, und kann so sowohl die stillen Momente zeigen wie auch Kampf- und Folterszenen.

Vor- und Nachwort von Le Roy und ein Interview mit Carmen Castillo runden den Band ab, ordnen und laden ein, sich noch einmal genauer anzuschauen, was damals in Chile geschah.

Kurz: Ein intensiver und bewegender Comic in einer von der Edition Moderne gut gemachten Ausgabe. Hervorragend!

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