„Andreas Baader, der 1968 wegen Brandstiftung zu drei Jahren
Haft verurteilt wurde, entdeckte im Gefängnis das Briefeschreiben. Er
schilderte das Elend des Alleinseins, schimpfte über das Wachpersonal und bat
seine Freunde, ihn mit dem Nötigsten zu versorgen. Abgesehen von Wurst und
Tabak waren das in erster Linie Bücher.“ (Seite 12)
„Heute, wo die intellektuellen Energien von ´68 in schwach
glimmende Substanzen zerfallen sind, fällt es schwer, sich die Faszination
eines Genres zu vergegenwärtigen, das Generationen von Lesern in seinen Bann
gezogen hat. Theorie war mehr als eine Folge bloßer Kopfgedanken; sie war ein
Wahrheitsanspruch, ein Glaubensartikel und ein Lifestyle_Accessoire.“ (Seite
12)
1968 und Westberlin – diese Kombination geistert immer
wieder durch politische Debatten, sei es, weil konservative und neurechte
Kreise Sittenverfall und Kulturverlust daran festmachen oder mal wieder, wie
jüngst aus der CSU zu hören ist, eine konservativ-moralische Wende fordern, die
sich am (vermeintlichen) Erbe der 68er abarbeiten soll.
Auf der anderen Seite des politischen Spektrums wird gern
ein sehnsuchtsvoller Blick zurückgeworfen, auf eine wilde Zeit, die so viele
gesellschaftliche Gewissheiten gebrochen und so vieles ermöglichte. Junge
Menschen interessierten und engagierten sich, es wurde debattiert und
theoretische Konstrukte als Zugang zur Welterklärung standen hoch im Kurs. Ohne
diese Vorgeschichte als Bestandteil der eigenen Biografie im Gepäck ist manche
Diskussion mit so geprägten Alt-Linken recht anstrengend. Das Gefühl nicht
mitreden zu können, ohne noch einmal viele Jahre des Textstudiums absolviert zu
haben, macht sich da schnell breit.
Ich kenne das Gefühl gut und habe immer wieder versucht in
Texten und Gesprächen einen Eindruck davon zu erhalten, was dieses 1968 denn
nun war – und was uns davon geblieben ist und vielleicht auch weiterhin bleiben
wird. Und auch, wie auf die theorie- und diskussionsfreudigen Spätsechziger und
Siebziger dann die hedonistischen Achtziger und Neunziger folgen konnten. Mit
Felschs Arbeit über den Merve Verlag fand sich für mich ein weiterer
Mosaikstein zum besseren Verständnis – ganz abgesehen davon, dass es für mich
eines der besten Sachbücher ist, das ich im letzten Jahr gelesen habe.
„Dieses Buch erzählt von Peter Gentes Bildungserlebnissen,
von den Irrfahrten des Merve-Kollektivs und von den Entdeckungen des
Verlegerpaares. Es folgt der Spur ihrer Lektüren, ihrer Debatten und
Lieblingsbücher – aber es dringt nicht ins Innere der Bleiwüsten ein.“ (Seite
19)
Dafür liefert der Text eine atmosphärische Ahnung vom linken
Westberlin im Umfeld des Merve Verlages und viele Theorie-Zipfel, die anregen,
um daran zu zupfen und manches nachträglich zu entdecken. Felsch schafft es
fesselnd zu erzählen und ließ wenigstens mich nicht erschlagen von all den
großen Namen zurück, wie es Berichte dieser Art sonst gern so an sich haben.
Spannend – und für mich nach wie vor offen – ist noch die
Frage, wie es passieren konnte, dass trotz so viel Lust am Denken und
theoretischer Durchdringung der Welt am Ende so wenig Gegenwehr gegen das
Aufkommen des Neoliberalismus erfolgte. Wie wurde es möglich Die Grünen, die
sich selbst als Partei ja am deutlichsten in der Tradition von 1968 sehen,
vorrangig als grün angestrichene Neoliberale wahrzunehmen?
Ich hoffe sehr, dass es gerade in diesem Jahr – mit 50
Jahren Abstand – viele Publikationen geben wird, die hier weitere Hinweise und
Erkenntnisse liefern können. Felschs Buch wird dabei ganz sicher eine der ganz
wichtigen Arbeiten bleiben, gerade weil sie in der Lage ist, weit über den
wissenschaftlichen Kreis hinaus zu wirken. Immerhin gibt es, kein Scherz,
inzwischen eine Verfilmung, an der auch Philipp Felsch mitwirkte.
Kurz: Auch Sachbücher können gut geschrieben und trotzdem
informativ sein. Philipp Felsch liefert dafür ein mehr als überzeugendes
Beispiel. Lesen! ^^
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