Dienstag, 19. März 2019

Shumona Sinha: Staatenlos



„Sie kam an einem Morgen zu Frühlingsbeginn hier an. Die Bäume waren noch kahl. Bis auf die Trauerweiden.“ (Seite 7)

In diesem Roman ist nichts kuschelig. Beim Lesen rutschte ich unwillkürlich, unbehaglich berührt auf dem weichen, bequemen Sofa hin und her. Denn in der Welt, die Shumona Sinha hier schildert, stimmt so vieles nicht. Und es ist genau unsere Welt, die sie beschreibt. Die Welt, in der wir leben.

Mina lebt in einem Dorf in Bengalen in einer Bauernfamilie. Ihr Leben ist hart und läuft in traditionellen Bahnen. Das bedeutet, es ist nicht vorgesehen, dass Mina oder jemand wie sie sich auflehnt, die Stimme erhebt. Als das Land ihrer Eltern zu Bauland werden soll, macht sie aber genau das – in einer Welt, in der Frauen nichts zu sagen haben, sondern schweigen und erdulden. Als wäre das nicht genug, liebt sie auch noch den falschen Mann und wird schwanger.

Woher nimmt Mina ihren Mut, wo findet sie die Kraft, sich zu widersetzen? Es ist die Begegnung mit Marie, die im fernen Paris lebt, wo sie als Kind aus einem indischen Waisenhaus von einem französischen Ehepaar adoptiert wurde. Obgleich Marie selbst hin und her gerissen ist zwischen den Welten, durch Bildung und Sozialisation befähigt, für ihre Interessen einzustehen und gewappnet mit Wissen, um Zusammenhänge zu erkennen und Ungerechtigkeiten zu benennen, ist ihr Pendeln zwischen Frankreich und Indien eine Suche nach ihren Wurzeln, ihrem Ort, ihre Verwundbarkeit.

Mina muss sie, die starke, toughe Frau aus dem Westen, als ein Wunder erscheinen. Ein Wunder, aus dem sie die Kraft schöpfen kann, sich mit dem Politiker anzulegen, der über den Kopf ihrer Familie hinweg über das Schicksal dieser Familie entscheiden will. Die Kraft, an der Liebe zu ihrem Cousin und den Folgen dieser Liebe nicht zu verzweifeln.

Esha schließlich, die dritte Frau in diesem Roman, kennt Mina von deren Posts im Internet und stammt selbst aus Kalkutta. Aus einer wohlhabenden Familie stammend hatte sie die Wahl, sich für ein Leben in Paris zu entscheiden, wo sie Jugendliche in einem Problemviertel unterrichtet. Doch hier, im freien Westen, ziehen sich die Fesseln ihrer Herkunft immer fester um ihr selbstbestimmtes Leben und rauben ihr zusehends die Luft zum Atmen.

Mit gerade einmal 159 Seiten in der gebundenen Ausgabe ist der Roman nicht sonderlich lang geraten. Und doch hat mich die Intensität der Schilderungen von Verzweiflung und auch Gewalt ziemlich mitgenommen. Die Bedingungen, unter denen Frauen leben, die Frage von Heimat und Wurzeln oder der Möglichkeit Anzukommen und Wurzeln zu schlagen, wenn man an diesem Bild festhalten mag – so viele Realitäten, die so verschieden sind von meiner eigenen, wohnen nur eine Tür weiter.

Wie ich erst im Nachhinein las, verlor Shumona Sinha ihren Job bei der französischen Migrationsbehörde nach dem Erscheinen ihres ersten Romans. Selbst ohne viel mehr über sie nachgelesen zu haben, kann ich mir auch anhand der Intensität dieses dritten Romans vorstellen, dass sie als Autorin aneckt. Das macht ja aber die Entdeckung von Literatur auch immer wieder aus.

Kurz und gut: Hart, prägnant und intensiv. Eine Lektüre, die sich für mich unbedingt gelohnt hat!

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