Freitag, 30. April 2021

Wolfgang Engler: Die Ostdeutschen. Kunde von einem verlorenen Land


„Nach zwanzig Jahren …

Mehrmals pro Woche flattern Hinweise auf Diskussionsrunden oder größere Foren, die sich mit der DDR beschäftigen, in meine Briefkästen.“ (Seite 11)

Im Original erschien diese Studie 1999. Zwanzig Jahre später ist da Thema offenbar immer noch präsent und relevant genug, um eine überarbeitete Neuauflage zu rechtfertigen. Der Staat, das System, das diese ostdeutsche Gesellschaft so nachhaltig geprägt hat, ist zum Zeitpunkt der Neuauflage des Buches seit 29 Jahren nurmehr ein historischer Gegenstand, dessen Gründung 2019 70 Jahre zurücklag.

Im Jahr 2030 wird die DDR genauso lang Gegenstand historischer Forschung und diverser Debatten sein wie sie real existierte: 40 Jahre. Und es gibt zumindest heute keinen Grund zur Annahme, dass sich das Nachdenken über die Ostdeutschen und ihre Gesellschaft dann erledigt haben könnte.

Engler konzentriert sich in diesem Buch auf gesellschaftliche Entwicklungen und lässt das politische System und klassische Strukturgeschichte außen vor. Es ist also hilfreich, ein wenig über die Geschichte der DDR zu wissen, wenn man seiner Darstellung folgen will. Und wer das tut, wird mit einem breiten Blick auf diese Gesellschaft belohnt, von der man nachträglich fast nicht glauben mag, dass sie in dieser oft als so trist und unbeweglich beschriebenen DDR existiert haben kann.

Überhaupt begegnet mir das Phänomen auch bei Englers Schilderungen wieder, dass ich trotz ein wenig biografischen Wissens, trotz vielen angelesenen und abgehörten Wissens immer wieder Facetten entdecke, die mich staunen lassen, über dieses merkwürdige Land und die Menschen, die dort lebten.

Eindrücklich sind mir Englers Berichte über die verschiedenen Generationen, die in dieser Gesellschaft aufeinander folgten und auch miteinander rangen. Ein wenig vom Geist der frühen DDR lässt Engler durch die Seiten wegen, der eben auch geprägt war von einer Generation von Menschen, die den Aufbruch in die Nachkriegszeit enthusiastisch gelebt haben. Zugleich ist es diese Generation, die von Nachgeborenen wie mir als die grauen alten Leute erlebt wurden, die nur noch in Phrasen sprachen, die als hohl, überholt und halsstarrig wahrgenommen wurden.

Kopfschüttelnd lese ich Englers Erinnerung an die kulturellen Kämpfe, die da ausgefochten wurde. Wie viel an intellektuellem Porzellan da zerschlagen wurde, vermeintlich im Sinn einer guten Idee. Welche Verbiegungen Menschen hinnahmen und auf sich nahmen.

Die Auswirkungen all dessen ließen sich durchaus auch in dem kleinen, abseits gelegenen Dorf erleben, in dem ich aufgewachsen bin – zumindest würde ich das heute so einschätzen. Ich frage mich aber auch, wie viel von diesen Details als konkrete Erinnerungen Einzelner noch vorhanden sind, wenn sie nicht gerade Beteiligte/Betroffene waren.

Und trotzdem kann ich all dem Lob, was sich über Englers Arbeit findet, nur zustimmen, dass all diese zwiespältigen und auch widersprüchlichen Entwicklungen dann eben doch mitgedacht werden müssen, wenn wir heute überlegen, was die ostdeutsche Gesellschaft heute denn ausmacht. Nimmt man noch Arbeiten wie „Lütten Klein“ von Steffen Mau hinzu und weitere, die die gesellschaftlichen Entwicklungen nach der Wiedervereinigung im Osten in den Blick nehmen, dann rundete sich dieser Blick vielleicht ab.

Die Schwierigkeit bei all dem besteht zweifellos darin, dass es sich aus bundesdeutscher Perspektive nur um Nischenthemen handelt. Aller paar Jahre werden sie hervorgekramt, wenn mal wieder ein Jahrestag ansteht, der aber zumeist auch kein originär ostdeutscher ist und sein soll, oder aber irgendeiner dieser Gruselgeschichten passiert. Bei Jana Hensel zum Beispiel findet sich der Hinweis in vielen Texten hinreichend deutlich beschrieben. Die westdeutsch geprägte Mehrheitsgesellschaft spricht über den Osten, der selten mal dabei zu Wort kommt. Leider gibt es die ostdeutsche Gesellschaft auch nicht, die das in für die Menschen förderlicher Weise aufheben könnte. Dieser Osten mit seiner DDR-Vergangenheit wird also noch lange ein mindestens unterschwelliges Thema bleiben – mindestens bis 2030.

Kurz und gut: Zeit nehmen, innehalten, Engler lesen und dann mal mit Menschen über Erinnerungen reden. Lesen!

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