„Es war einmal ein
Land, in dem Lampen ohne Fransen und Kaffeetassen ohne Blümchen die Parteitage
beschäftigten.“ (Seite 11)
Dieses feine Büchlein
erzählt mal wieder eine für die so oft als trist und grau beschriebene kleine
DDR eine überraschende Geschichte. Die Unangepassten, die Lebenskünstler stehen
in ihrem Mittelpunkt- die Boheme des Ostens, wie der Untertitel lautet.
Ich kann inzwischen gar
nicht mehr zählen, wie oft ich schon meine Überraschung geschildert habe,
darüber wie viele verschiedene und unterschiedliche Realitäten offenbar in
diesem kleinen Land steckten und möglich waren, das ich nur aus der dörflichen
Perspektive in Thüringen kennenlernte. Und selbst für diesen Ort, unweit der Grenze
zu Hessen, würde ich trist und grau als Adjektive schon nicht annehmen wollen.
Rückwirkend gab es auch
hier bohemehafte Momente. Wenn zum Beispiel in der großen Hofpause die Fenster
des Jugendklubs im Keller geöffnet wurden, Boxen zum Hof gedreht und Musik von
den Rolling Stones erschallte – protegiert durch den stellvertretenden
Direktor, der Teil eines größeren Stones-Fan-Netzwerkes war, wie ich Jahre
später erfahren habe. Oder aber beim Tanzstunden-Abschlussball, der Moment, als
unsere Direktorin ganz allein mitten auf der Tanzfläche stand, ein Glas Whiskey
oder ähnliches in der einen Hand, das Mikrofon am langen Kabel in der anderen.
Eine Zigarette war, glaube ich, auch noch im Spiel. Und ganz ohne Begleitung
aber mit unglaublich rauchig-brüchiger Stimme sang sie das Haifischlied von
Bert Brecht. Alle hatten diesen legendären Moment herbeigesehnt, von dem uns die
älteren Jahrgänge raunend erzählten.
Gänzlich verwundert
kann ich also doch nicht sein, über das, was Jutta Voigt aus der für mich
damals so fernen Hauptstadt berichtet. Genaugenommen sind es die Geschichten,
die für so viele genau den Reiz ausmachen, für den der alte Prenzlauer Berg
immer so bewundert wurde – auch wenn hier meist der Kiez in der Wendezeit und
in den frühen Neunzigern gemeint ist. Aber vielleicht ging das ja auch fließend
ineinander über.
Möglicherweise lässt
ein Gesellschaftssystem wie die DDR ja auch eine Boheme, Unangepasste,
Kreative, Gradwanderer erst so richtig schillern, weil sich all die braven
Bürger:innen so sehr konform verhielten oder aber das Schillern aufs rein
Private begrenzten. Hier dagegen wurde mindestens in den nächtlichen
Anlaufstellen das Private ordentlich zur Schau getragen, ausgelebt und zwar
hemmungslos. So wirkt es wenigstens nachträglich.
Jutta Voigt hat kein
Sachbuch geschrieben. Es ist viel mehr ein sehr literarisches und, glaube ich,
sehr persönliches Erinnerungsbuch. Sie streift durch die Lokale und Zeiten mit atmosphärisch
dichten Bildern, rauchgeschwängert und von Stierblut vollgesogen. Das ist
wirklich grandios zu lesen.
Je mehr ich über dieses
seit über dreißig Jahren verschwundene Land lese, um so weniger kann ich für
mich sagen, was und wie es denn nun eigentlich gewesen sein mag. Also trage ich
weiter all diese Mosaiksteinchen zusammen und genieße solche Perlen wie dieses
Buch. Das will auch so gar nicht vergessen machen, welche auch wirklich
schrecklichen Ecken und Seiten es dort auch gab.
Kurz und gut: Passt
bestens zu einer Flasche Stierblut. Diesen ungarischen Wein muss es schon
allein deswegen noch geben, weil es solch unglaublich guten Texte gibt. Lesen!
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