Sonntag, 7. Mai 2023

Hanya Yanagihara: Ein wenig Leben


(Übersetzung: Stephan Johann Kleiner)

„Die elfte Wohnung hatte nur einen einzigen Schrank, aber es gab eine gläserne Schiebetür, die auf einen kleinen Balkon führte, von dem aus er einen Mann im Haus gegenüber sehen konnte, der nur mit T-Shirt und kurzen Hosen bekleidet im Freien saß und eine Zigarette rauchte, obwohl es schon Oktober war.“ (Seite 11)

Ich muss die Reihe meiner Messeausbeuten mal kurz unterbrechen und dieses kleine Büchlein mit gerade einmal 950 Seiten dazwischenschieben. Mein Intermezzo in Sachen antizyklisches Lesen. 😊

Ich kann mich noch gut erinnern, dass mir dieses Buch eine Zeitlang nun wirklich überall über den Weg gelaufen ist. Wie so oft weckte das meinen Trotz, in jedem Fall das Taschenbuch abzuwarten und dieses dann auch noch einmal so lange liegenzulassen, bis ich wirklich dazu greifen mochte. Jetzt kann ich also mitreden. 😊

Gleich vorneweg kann ich festhalten: Ja, ihr hattet ja alle recht, die ihr das Buch gepriesen und gelobt habt. Es ist wirklich ein grandios gut geschriebenes Werk, eine Geschichte mit Sogwirkung und emotional packend obendrein.

Der Umschlagtext behauptet, es sei die Geschichte von vier Freunden. Das stimmt für mich nicht so ganz. Trotz aller Perspektiv- und Zeitenwechsel ist Jude St. Francis die unangefochtene Hauptfigur. Der Freundeskreis, den wir hier vom College über mehrere Jahrzehnte begleiten können, dreht sich, mal enger, mal schneller, mal weiter und gemächlicher aber eben immer um Jude. Letztlich ist er mit seiner Geschichte der Fixpunkt, auf den alle und alles irgendwie immer ausgerichtet ist.

Dabei ist Jude auch zugleich der Zerbrechlichste und auch Stärkste der vier. Die wenigen Jahre seines Lebens, bevor sich die Vier das erste Mal begegnen, bleiben den Freunden aber auch uns Leser:innen lange verborgen. Nur zaghaft und widerspenstig schält sich Schicht um Schicht ab, bevor sich das ganze Ausmaß an Leid und Drama erkennen lässt.

Dieses sich Häuten der Vergangenheit präsentiert uns Yanagihara zwar mit einer Sprache, einem erzählerischen Rhythmus, der sich bestens verschlingen lässt. Aber so, wie Jude immer wieder zunächst durch neue Höllen gehen muss, bevor er bereit ist, eine weitere Enthüllung hinzunehmen und noch eine und noch eine. So lässt die Autorin auch uns Lesende gekonnt mitleiden, gerade weil alles so lange so schemenhaft bleibt und sich jedes Mal als noch grausamer entpuppt als befürchtet.

Liebe und Freundschaft trotzen diesem eigentlich trostlosen Setting immer wieder Lichtmomente ab, in denen auch ich gegen jede düstere Ahnung auf ein Happy End oder wenigstens einen Hauch davon hoffte. Das über eine solche Strecke aufrecht zu erhalten, ist eine große literarische Leistung, die sicher nicht genug gewürdigt werden kann.

Mit der besten Bücherfrau von allen sprach ich ein paar Mal über etwas, das uns beiden aufgefallen war. Wir waren aber sicher nicht die einzigen. 😊

Alle Figuren in dem Roman durchlaufen auf die eine oder andere Art ihre Tiefen aber auch ihre Höhen. Letztlich leben sie alle in einer Welt, in der Geld keine Rolle spielt, auch wenn das eingangs noch etwas differenzierter ist. Die Geschichte greift das finanziell sehr erfolgreiche Leben der Charaktere nur insofern auf, weil es die Lebensumstände erklärt. Eine Frage, die wir uns gestellt haben, war, wie die Geschichte mit diesen Protagonisten funktioniert hätte, wenn zu allem, womit sie geschlagen sind, auch noch fortwährende existenzielle, finanzielle Sorgen und Nöte hinzugekommen wären? Würde die Geschichte dann genauso funktionieren? Wenn nicht, was ließe sich daraus an Erkenntnis gewinnen?

Ich versuche mal eine Antwort, ohne Anspruch auf Wahrheit: Ich vermute, dass die Geschichte eine deutlich andere geworden wäre, wären die Charaktere arm oder auch nur „normal“ vermögend. Es würde Gewissheiten und Spielräume der Figuren vermutlich deutlich verschieben. Die Geschichte über Liebe und Freundschaft und eine dunkle Vergangenheit würde ganz andere Bilder benötigen, um ähnlich wirkmächtig zu werden. Vielleicht ist es auch gerade der grelle Gegensatz von Reichtum und Leid, der hier besonders wirksam ist. Dem Roman, nimmt diese Überlegung nichts. Aber es ist spannend, darüber nachzudenken.

Kurz und gut: Es kommt schlimmer. Aber das ist Literatur. Unbedingt Lesen!

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