Mittwoch, 24. Januar 2024

Ulla Lenze: Der Empfänger


„San José, Costa Rica, Mai 1953

Früher Abend, Dämmerung, Wolken aus Insekten. Im Fahrtwind prasseln sie in sein Gesicht, er kneift die Augen zusammen.“ (Seite 7)

Das Leben schreibt doch immer wieder ganz unglaubliche Geschichten. Ulla Lenze hat auf Grundlage des Lebens ihres Großonkels diesen Roman geschrieben. Und ich habe ihn glücklicherweise in der besten Buchhandlung von allen für mich entdeckt.

Josef Klein ist ein stiller Mann. In einer New Yorker Druckerei, die von einem deutschen Auswanderer wie er es selbst auch ist, betrieben wird, arbeitet er ohne große Begeisterung. Die bleibt seinem Hobby vorenthalten: dem Amateurfunken. Er bastelt, baut und funkt. Mehr braucht er nicht, während er zufrieden im multikulturellen Harlem der Dreißiger Jahre lebt. Doch die großen historischen Umbrüche sowohl in seiner alten Heimat, in der noch sein Bruder mit Familie lebt, wie auch in seiner Wahlheimat brechen mit aller Macht in sein Leben herein.

Der Anfang ist, wie so oft, unmerklich und kaum der Beachtung wert. Die Druckerei beliefert einen Teil der deutschen Community in New York mit Druckerzeugnissen. Und die werden immer politischer und radikaler, ganz im Sinne der Deutschen in New York, die sich hinter die Nazis in der alten Heimat stellen. Auch im Kollegenkreis sind viele begeisterte Anhänger. Unversehens findet sich Josef bei einer Großveranstaltung wieder, die die pompösen Naziaufmärsche nachahmt, wie auch in Hinterzimmern unter Männern, die von einem nazistischen Amerika träumen.

Seine Leidenschaft für das Funken wie auch seine technische Begabung beim Bau von Funkgeräten lassen ihn ohne sein großes Zutun interessant werden für dubiose Bekanntschaften, die vorgeben, geschäftlich mit Deutschland Kontakt per Funk aufnehmen zu wollen. Ohne große Begeisterung und gegen Geld lässt er sich als Funker gewinnen, verspricht dieser Lohn doch, dass er vielleicht dem wenig geliebten Job in der Druckerei zu entkommen.

Obgleich misstrauisch kann oder will er nicht gleich erkennen, wer ihn da beauftragt und seine Fähigkeiten nutzt. Doch nach und nach kann er sich der Tatsache nicht mehr verschließen, dass er Teil eines deutschen Spionageringes in New York geworden ist. Die Kraft und den Mut zum sofortigen Ausstieg findet er leider von sich aus nicht.

Erst die aufkeimende Liebe zu einer jungen, idealistischen Amerikanerin, die er über das Funken kennenlernt, sorgt dafür, dass Josef sich Fragen stellen muss und fast eine Entscheidung trifft. Die amerikanische Spionageabwehr spielt auch eine Rolle, aber soviel will ich gar nicht verraten.

Schließlich landet Josef Klein mit all den Möchtegerns und Nazis in Abschiebehaft und letztlich wieder in Deutschland – nach dem Krieg. Hier trifft er auf seinen Bruder, mit dem gemeinsam er eigentlich auswandern wollte. Ein resignierter Rückkehrer, der seine Verstrickung sich selbst gegenüber kaum formulieren kann, trifft auf den Zurückgelassenen, der in Deutschland zurechtkommen musste. Tausend gute Gründe für Josef weiterzuziehen.

Obwohl aus der Geschichte nun wirklich nicht hervorgeht, dass Josef auch nur ansatzweise ein Nazi gewesen wäre, folgt er dem Treck derer, die sich nach Südamerika absetzten. Ganz so, als suche er die Nähe derer, zu denen er nie gehörte, um sich selbst dafür zu bestrafen, dass er sich auf deren Tun eingelassen hatte. Etwas wie Frieden findet er letztlich in Costa Rica, wo die Erzählung in der Jetztzeit einsetzt.

Der Roman wechselt immer wieder zwischen den Orten und Zeiten und bleibt dabei dicht an der Hauptfigur. Der Autorin gelingt eine Charakterisierung von Josef Klein, die sich nicht anbiedert aber auch nicht verurteilt. Seine Hilf- und Ratlosigkeit ist berührend dargestellt. Für eine überzeugende Darstellung der verschiedenen Orte braucht Ulla Lenze nicht viele ausschweifende Beschreibungen. Hier passt wirklich alles.

Kurz und gut: Für mich eine literarische Entdeckung, ganz ohne großes Buhei. Lesen!

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