„Auch wenn es Identitätspolitik freilich vorher schon
gegeben hat: Den Begriff ‚Identitätspolitik‘ hat erst das Combahee River
Collective 1977 geprägt.“ (Seite 7)
Ich klicke jetzt den Auszählungsstand der Landtagswahl
in Brandenburg einfach weg und nehme mir lieber dieses Büchlein vor, nach
dessen Lektüre ich hier noch ein paar Zeilen schreiben wollte.
Dass
Rechtsextreme bis hin zu den Marktradikalen seit Jahren einen echt merkwürdigen
Fetisch in Sachen Gendern pflegen, ist ja sattsam bekannt. Vor der letzten
Bundestagswahl stieß dann noch Sarah Wagenknecht mit ihrem Buch „Die
Selbstgerechten“ in dieser Riege dazu – und schwups gab es eine schöne breite
Debatte über diese linken Identitätspolitiken, die sich insbesondere am Gendern
aber durchaus auch an Rassismusdebatten hochzogen. Letzteres scheint ja ohnehin
für diese breite politische Palette (siehe oben) ein weiterer obsessiver
Fetisch zu sein.
Die Rede war
und ist vom „linksgrün-versifften“ Mainstream, der zur „Meinungsdiktatur“
führe, bis dahin, dass linke Identitätspolitiken den Klassenkampf verhindern
würden. Was für eine abgefahrene Mischung, wenn man sich das mal so anschaut.
Dieser schmale
Band bietet einen wirklich gut lesbaren kurzen Gang durch die
Theoriegeschichte, die sich hinter diesen Debatten verbirgt. Und der
tatsächlich undogmatische Blick des Autor:innenduos erhellt so einiges,
wenigstens für meinen Geschmack.
Einfache
Erkenntnis zum Beispiel: Es ist gar nicht von vorneherein schlimm, wenn Menschen
sich ihrer Identitäten (die durchaus mehrfach sein können) bewusst werden und
entsprechend überhaupt erstmal eigene Interessen benennen können. Die
gesellschaftlichen Fortschritte, die zum Beispiel durch die Frauenbewegungen,
antirassistische Bewegungen bis hin zu queeren Bewegungen erreicht werden
konnten, sind zumindest aus meiner Sicht nicht kleinzureden. All das wäre ohne
Identitätspolitiken nicht möglich gewesen.
Vollkommen
zurecht verweisen die Autor:innen auch darauf, dass es auch in der Arbeiter:innenbewegung
sehr wohl den Ansatz gab, eine gemeinsame kulturelle Klammer – also eine
gemeinsame Identität zu entwickeln. Das sei mal mit Blick auf das o.g.
Klassenkampfargument angemerkt.
So weit, so
gut. Ganz unaufgeregt berichtet der Band aber eben auch davon, dass die Gefahr
von sich bildenden Identitäten immer auch die Gefahr des Ausschlusses in sich
bergen, weil Identitäten etwas beschreiben, was ich bin, aber andere nicht
sind. Die Frage kann ja hier nur sein, warum das zwingend ein Gegeneinander
sein sollte? Mir zumindest fallen sehr viel mehr Beispiele von grundsätzlichen
Gegner:innen linker Identitätspolitiken ein, die das propagieren als Vertreter:innen
eben solcher Politiken. Komisch, eigentlich.
Es führt
natürlich über diesen Band hinaus, aber was ich auch nicht so recht nachvollziehen
kann: Wenn linke Identitätspolitiken dazu führen, sprachsensibler zu
kommunizieren, Diskriminierungen besser zu erkennen und vermeiden zu können,
wie sollte es dann gegen diese neurechte/rechtsextreme/rechtspopulistische Diskursverschiebung
helfen, genau diese Fortschritte nun zu verdammen? Seit wann hilft es gegen
Nazis, „Sprachverbote“ zu verdammen, die niemand ausgesprochen hat? (Ok, jetzt schlägt
dann doch der Eindruck der heutigen und letzten Landtagswahlen im Osten durch.)
Auch das sei
erwähnt, weil es im Buch ebenso thematisiert wird: Natürlich gibt es auch
Debattenstränge, die tatsächlich Betroffenengruppen immer zersplitterter werden
lassen und einen Hang dazu haben, Ausschlüsse mehr in den Mittelpunkt zu
stellen als Überlegungen dazu, wie das Ganze denn gesellschaftlich wieder
zusammenkommen könne. Ich kann allerdings auch nicht wahrnehmen, dass diese
übermächtig oder auch nur ansatzweise mehrheitsfähig wären.
Wer all das
an Theoriearbeit, die in diesem Buch profund vorgestellt wird, in Bausch und
Bogen verdammen wollte, sollte zugleich beantworten, wie dem offenkundigen und
derzeit erfolgreichen Kulturkampf von rechts, der nichts anderes als Identitätspolitik
ist, zu begegnen sei.
Ich finde
ja, dass ein Blick auf den eigenen Wertekompass da klare Antworten geben kann:
Andere Menschen zu diskriminieren ist schlecht, besser werden und dazulernen zu
wollen, ist gut. Find ich jetzt nicht so schwierig. 😉
Kurz und
gut: Gutmenschenlektüre, und die ist gut. Also lesen! 😉
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