Donnerstag, 13. Februar 2025

Octavia E. Butler: Xenogenesis. Dämmerung – Rituale – Imago


„Am Leben!
Noch immer am Leben.
Wieder am Leben.“ (Seite 7)

Man könnte ja meinen, wenn man ein paar Jahrzehnte viel und regelmäßig liest, hätte man irgendwann alles gesehen. Liebe, Tod, Unsterblichkeit und was auch immer – alles schon mal erzählt, alles schon mal gelesen. Allenfalls tauche mal eine neue Stimme auf, die die gleichen Themen aktueller in modernerem Ton erzählt. Tja.

Das fantastische an Literatur ist aber, dass immer mal wieder eine Stimme im Lesestapel auftaucht, die erst mit Jahren Verzögerung zu einem spricht. Verrückt und fantastisch. Dafür liebe ich Literatur.

Octavia E. Butler ist – wenigstens für mich – genau so eine Stimme. Und ja, Heyne hat mit diesem Band viel richtig gemacht. Zumindest hat es bei mir funktioniert. Das Cover als Eyecatcher, ich greife zu, Klappen- und Verlagstext, bumm gekauft.

Während viele Titel ja eher langsamer auf dem Lesestapel nach oben wandern, war hier der richtige Moment zum Lesen schon recht schnell gekommen. Und es war ein Fest. Sehr schnell mischte sich in meine Begeisterung diese beklemmende Erkenntnis, dass ich dieses Epos leider würde nicht noch einmal zum ersten Mal lesen können. Ok, aber die Begeisterung überwog dann doch – bei weitem!

Jetzt aber mal etwas Butter bei die Fische! 😉

Lilith Iyapo wacht auf. Nicht zum ersten Mal, aber die Erinnerung an vorherige Male ist verschwommen. Der tür- und fensterlose Raum, in dem sie sich befindet, ist aus einem Material, das an nichts erinnert, was sie kennt. Eine Stimme, die sie interviewt oder besser ausfragt, macht deutlich, dass sie auf einem Raumschiff sei. Bei einer fremden Spezies. Dass ihre Welt, die sie kannte, untergegangen ist in einem atomaren Weltkrieg. Das sei 200 Jahre her. Sie sei eine der geretteten Überlebenden.

Im Gegensatz zu anderen Science-Fiction-Stoffen bleiben diese Außerirdischen keine Stimme, kein bildloses Phantom des Grauens. Sie sind echt. Und Lilith wird unter ihnen und mit ihnen zu leben lernen.

Die Oankali, auf deren Schiff sie aufwacht, sind eine Händlerspezies. Sie ziehen durch Weltall und tauschen Gene. Stete genetische Veränderung, Erweiterung, Verbesserung ist ihr Antrieb, ihr Lebenszweck. Und sie sind gut darin. Die Menschen in aller ihrer Widersprüchlichkeit, zur bedingungslosen Liebe fähig, zu wissenschaftlichen Großleistungen und dazu, sich selbst in einem erbarmungslosen Krieg auszurotten, die Menschen erregen das Interesse der Oankali. So sehr, dass sie Überlebende bergen, heilen und erst einmal wegpacken, um sie zu erforschen und in genetischen Austausch mit ihnen zu treten.

Derweil beginnen sie auch damit, die Erde zu heilen, wenigstens in Teilen. Die Menschen sollen in ihr natürliches Habitat zurückkehren. Dabei soll Lilith den Oankali helfen. Zunächst lernt Lilith diese Spezie kennen, lebt bei einer Familie, wird integriert. Im Weiteren soll sie Gruppen zusammenstellen, die willens und in der Lage wären, auf der Erde zu überleben.

Doch Lilith ist bereits mehr als ein Mensch. Über genetische Eingriffe wurde ihre Lebenszeit verlängert, wurde sie widerstandsfähiger, stärker gemacht und mit der Fähigkeit versehen, dass ihr Körper sich selbst heilen kann. Und mehr als das, wurde sie auch in Familienstrukturen der Oankali eingebunden – emotional, sexuell. Sie führt ein doppeltes Leben. Eines, in dem sie die Menschheit, wie sie war, retten will. Ein anderes, in dem sie in einer für die Oankali typischen Beziehung lebt – und später auch Kinder bekommt, die genetisch beides sind: menschlich, aber auch Oankali.

Es geht natürlich nicht einfach gut. Das Misstrauen derer, die aufgeweckt und von Lilith trainiert werden sollen, ist groß. Gegenüber den Oankali sowieso, gegenüber Lilith erst recht. Etlichen gilt sie als Verräterin an ihrer Spezies. Denn die Bedingung, um zurück auf die Erde zu können, ist es unfruchtbar zu sein, keine eigenen Kinder mehr zeugen und gebären zu können. Nur noch Kinder aus Beziehungen mit Oankali sollen geboren werden.

Die Begründung klingt ja zunächst auch plausibel. Denn der Hang der Menschen zu Hierarchien und in der Folge dazu, sich selbst zu vernichten, sei zu stark und fest verankert. Die Oankali zeigen sich bereit zu helfen, zu heilen – also für diejenigen, die das annehmen wollen – ansonsten können die zurückgesiedelten Menschen leben, wie sie wollen. Doch so werden sie unweigerlich aussterben, ohne eigene menschliche Nachkommen.

Worüber diese Menschen nichts wissen, ist die Fähigkeit der Oankali, genetisches Material zu sammeln, zu speichern und zu reproduzieren. Sie bräuchten die wiederaufgeweckten Menschen also nicht. Und auf der Ebene gerät die Umsiedelung der Geretteten zum großangelegten Sozialexperiment.

Es passiert natürlich noch sehr viel mehr auf diesen fast tausend Seiten, die Ende der Achtziger zuerst erschienen. Aber das will ich gar nicht alles verraten, weil es so wahnsinnig viel Lesespaß bereitet.

Vielmehr will ich noch erwähnen, dass nicht nur die Menschen und ihre Reaktionen auf das Angebot und die Anwesenheit der Oankali spannend sind, sondern eben auch die Oankali selbst als Lebensform und kulturelle Spezies geschildert werden. Dazu dienen Kinder, die Lilith in ihrer Oankalibeziehung (an der auch menschliche Männer beteiligt sind) zur Welt bringt. Sie sind, weil sie genetisch gemacht wurden, im Kern Oankali. Aber sie tragen eben auch viel Menschliches in sich, was auch die Oankali als Gesellschaft verändert, entwickelt.

Durch den Roman zieht sich auch die Frage, wie selbstlos die Oankali gegenüber den Menschen eigentlich agieren. Was bedeutet diese Hilfe, dieser Handel für die Oankali? Sagen sie die Wahrheit, verschweigen sie womöglich etwas? Nein nein, das schreibe ich hier natürlich wohlweislich nicht. 😊

Das Worldbuilding in diesem Roman ist also umfassend. Und es ist grandios gelungen. Obwohl Butler mit den Oankali eine Spezies erschaffen hat, die so ganz anders aussieht, handelt und funktioniert wie die Menschheit, findet sie eine perfekte Sprache, um das so fremdartige so greifbar zu beschreiben. Sie leben, diese Oankali, sie sind empfindungsreiche Wesen, die Individuen und Teil eines Kollektivs zugleich sind. Butlers Beschreibungen wirken nie platt, pauschal und klischeehaft, sondern immer originär und originell.

Natürlich dreht sich in diesem Epos ganz viel um Rasse – in dem Fall um die Auseinandersetzung zwischen Menschheit und Oankali. Dabei zeigt die Menschheit in Butlers Version eben auch genau die schlechten Seiten, die sie vor dem Krieg sich selbst jahrhundertelang angetan hat.

Ein zweites nicht weniger aktuelles Thema ist das der Geschlechtlichkeit, Gender also. Die Oankali kennen weiblich und männlich aber eben auch etwas dazwischen. Und ohne das dazwischen gibt es keine Beziehung und auch keine Lust und keine Fortpflanzung. Es sind also immer Dreierbeziehungen. Die neuartigen Familien, die mit Menschen entstehen, sind dann sogar Fünferbeziehungen. Und alle sind die Eltern der Kinder, die geboren werden.

Das kollidiert natürlich aufs Härteste mit heteronormativer Menschlichkeit. Insbesondere die Männer, deren Rolle in Oankalibeziehungen ganz anders ausgestaltet ist, hadern und ringen mit sich und den Oankali um ihre Rolle, ihr Selbstverständnis. Und das ist so ernsthaft, nicht verurteilend und empathisch verstehen wollend geschrieben, dass mir wenigstens das Herz dabei aufging.

Zu guter Letzt ist dieser Roman einfach unglaublich gut erzählt und geschrieben. Bei der Story passt einfach alles. Bedenkenlos würde ich sofort tausend weitere Seiten davon lesen wollen. Aber auch hier: Butler findet den perfekten Bogen, um dann einen Punkt zu setzen.

Apropos: Leider lassen sich ihre Arbeiten nur noch retrospektiv entdecken und genießen, denn diese großartige Erzählerin ist schon 2006 verstorben. Immerhin steht zu hoffen, dass noch einiges Mehr von ihr übersetzt und (wieder) veröffentlicht wird. Zumindest zwei neue Übersetzungen konnte ich schon ausmachen. Yieppieh! 😉

Kurz und gut: Ähem, kein Gerede – einfach lesen. Los!

(Übersetzung: Barbara Heidkamp)

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