„Donnerstag, 1. Mai
Die Lichter wurden zahlreicher.“ (Seite 7)
Beim diesjährigen Indiebook Day stolperte ich über diese
Neuauflage von Michel Butors Roman. Der Autor war mir unbekannt, Cover und
Klappentext sprachen mich aber sofort an. Erst nach der Lektüre machte ich mich
über den Autor schlau und erfuhr, dass ich sein wohl populärstes Buch erwischt
hatte, das exemplarisch für den Nouveau Roman als literarische Richtung steht.
Der Nouveau Roman entstand in Frankreich zwischen 1950 und
1970 und verzichtet beim Erzählen auf eine Handlungsorientierung. Figuren,
Orte, das Geschehen werden nicht ausgedeutet, ausgeleuchtet sondern schlicht
dargestellt. Den Lesern bleibt es überlassen, aus dem Spiel mit Formen und
Zeiten Deutungen zu ziehen.
Im „Zeitplan“ reist ein junger Franzose in eine düstere,
nordenglische Industriestadt, in der er ein Jahr lang in einer Firma arbeiten
wird. Die Stadt ist ihm fremd, die Sprache muss er erst mühsam erlernen. Wie
die grau verschmutzten Fassaden bleibt die ganze Atmosphäre der Stadt diffus, wie
mit klebrigem Industriestaub verschmiert. Die Menschen erscheinen vor diesem
Hintergrund wie Schatten und bleiben nahezu konturlos.
Der Text besteht aus den Tagebucheinträgen von Jaques Revel,
dem jungen Franzosen. Mit ihnen versucht er, nachdem seine Zeit in der Stadt
schon zur Hälfte vorbei ist, seine Ankunft und sein Leben hier zu
rekonstruieren, während ihm sein erzähltes Hier und Jetzt zu engleiten droht.
Er will sich erinnern, um seine Angst davor zu bezwingen, sich in dieser Stadt
endgültig zu verlieren.
Schreibend versucht er mit seinen Erinnerungen die Gegenwart
einzuholen. Je dichter er in seinen Tagebucheinträgen an die erzählerische
Jetztzeit herankommt, um so verwobener werden die Zeitebenen. Es verschwimmt
immer mehr, was vor Monaten, vor Wochen oder gerade eben erst passiert ist oder
womöglich gleich passiert sein wird.
So verstrickt sich Revel in seiner Wahrnehmung der Stadt,
seinen Gefühlen zu den wenigen Menschen, die er hier näher kennengelernt hat,
und auch in etwas, das er für einen ungelösten Kriminalfall hällt.
Ich muss gestehen, dass die Lektüre ganz sicher keinen Spaß
gemacht hat. Vermutlich entspricht dies aber auch genau der Intention dieses
literarischen Experiments. Das Recherchieren im Nachgang zum Lesen des Romans
hat einiges für mich aufgehellt und erklärt, was ich zunächst nur sehr diffus
wahrgenommen hatte. Spannend war es in jedem Fall, mich erst auf den Text einzulassen,
und dann erst Hintergründe zum Autor und seinem Werk herauszufinden.
Michel Butor gilt als letzter der Vertreter des Nouveau
Roman. Er starb im Alter von 89 Jahren am 24. August 2016.
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