Montag, 10. Oktober 2016

Javier Cercas: Anatomie eines Augenblicks. Die Nacht, in der Spaniens Demokratie gerettet wurde



„Mitte März 2008 las ich von einer in Großbritannien durchgeführten Umfrage, der zufolge ein Viertel der Briten der Ansicht ist, Winston Churchill sei eine erfundene Figur.“ (Seite 11, Vorwort des Autors)

Ich finde das einen ganz wunderbar passenden Aufhänger für ein Sachbuch, das ursprünglich mal als Roman gedacht war und konsequenterweise auch einen unabhängigen spanischen Literaturpreis erhielt, obwohl es letztlich eben nicht als Roman veröffentlicht wurde.

Einen Nerv trifft der Einstieg bei mir auch deswegen, weil ich einmal mehr feststellen muss, wie wenig wir hierzulande von europäischer Geschichte im Blick haben, wenn sie nicht gerade Mitteleuropa betrifft. Klar wird der Spanische Bürgerkrieg noch im Schulunterricht erwähnt. Aber über die Franco-Diktatur und deren Ende erfährt man dann doch selbst beim Geschichtsstudium eher nur sehr zufällig etwas. So wirken dann Franco selbst und erst recht wahrscheinlich Adolfo Suarez, der im Mittelpunkt dieses Buches steht, fast wie erfundene Figuren.

Adolfo Suarez, von dem ich hier tatsächlich das erste Mal etwas las, kam tief aus dem Regime Francos. Ihm fiel als erstem  demokratisch gewählten Ministerpräsidenten nach dem Tod des Diktators die Aufgabe zu, das in Jahrzehnten erstarrte Land umzugestalten. Seine Rolle dabei musste wohl von Anfang an eine zwiespältige sein.

Der historische Moment nun, den Javier Cercas hier auf über fünfhundert Seiten seziert, ist der Putschversuch vom 23. Februar 1981. Eliten des dem Untergang geweihten alten Regimes, Militärs im Wesentlichen, versuchten mit der Besetzung des spanischen Parlamentes dem Rad der Zeit in die Speichen zu greifen. Wie dieser Versuch misslang und fast misslingen musste, beschreibt dieses Buch.

Wie ein roter Faden zieht sich die Filmaufnahme aus dem Parlament durch das Werk, in der bewaffnete Soldaten den Plenarsaal während einer Sitzung stürmen und die versammelten Politiker mit gezogenen Waffen einzuschüchtern versuchen.

Mit literarischer Präzision zerlegt Cerca den Mitschnitt in einzelne Standbilder, anhand derer er die spannungsgeladenen Monate zuvor wie auch die unmittelbare Zeit nach dem Putschversuch wie ein Panorama ausbreitet. In kleinsten Gesten der Akteure findet der Autor immer wieder Anlässe und Hinweise, die beim Erfassen dieses historischen Momentes hilfreich sind.

Andere Autoren mögen beim Versuch, Geschichte nicht nur als reine Abfolge von Fakten zu beschreiben und spannend zu erzählen, ins Schwadronieren kommen. Javier Cercas passiert dies nicht ein einziges Mal. Er würdigt den Gegenstand seines Buches mit sachlicher Distanz und beschreibt ihn mit literarischer Präzision und Eleganz. An keiner Stelle wirkt das wie der literarische Taschenpsychologe.

„Anatomie eines Augenblickes“ ist ein Sachbuch, ein Polit-Thriller, Psychogramm eines dem Tode geweihten Regimes. Es beschreibt das Drama eines ganzen Landes und die Tragik der handelnden Personen eindringlich, intensiv und sensibel. Besser als die historische Vorlage hätte sich dies der Romanautor Javier Cercas nicht ausdenken können.

Es muss also nicht wundern, wenn ich dieses Buch unbedingt weiterempfehle. J

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