„Mitte März 2008 las ich von einer in Großbritannien
durchgeführten Umfrage, der zufolge ein Viertel der Briten der Ansicht ist,
Winston Churchill sei eine erfundene Figur.“ (Seite 11, Vorwort des Autors)
Ich finde das einen ganz wunderbar passenden Aufhänger für
ein Sachbuch, das ursprünglich mal als Roman gedacht war und konsequenterweise
auch einen unabhängigen spanischen Literaturpreis erhielt, obwohl es letztlich
eben nicht als Roman veröffentlicht wurde.
Einen Nerv trifft der Einstieg bei mir auch deswegen, weil
ich einmal mehr feststellen muss, wie wenig wir hierzulande von europäischer
Geschichte im Blick haben, wenn sie nicht gerade Mitteleuropa betrifft. Klar
wird der Spanische Bürgerkrieg noch im Schulunterricht erwähnt. Aber über die
Franco-Diktatur und deren Ende erfährt man dann doch selbst beim
Geschichtsstudium eher nur sehr zufällig etwas. So wirken dann Franco selbst
und erst recht wahrscheinlich Adolfo Suarez, der im Mittelpunkt dieses Buches
steht, fast wie erfundene Figuren.
Adolfo Suarez, von dem ich hier tatsächlich das erste Mal
etwas las, kam tief aus dem Regime Francos. Ihm fiel als erstem demokratisch gewählten Ministerpräsidenten
nach dem Tod des Diktators die Aufgabe zu, das in Jahrzehnten erstarrte Land
umzugestalten. Seine Rolle dabei musste wohl von Anfang an eine zwiespältige
sein.
Der historische Moment nun, den Javier Cercas hier auf über
fünfhundert Seiten seziert, ist der Putschversuch vom 23. Februar 1981. Eliten
des dem Untergang geweihten alten Regimes, Militärs im Wesentlichen, versuchten
mit der Besetzung des spanischen Parlamentes dem Rad der Zeit in die Speichen
zu greifen. Wie dieser Versuch misslang und fast misslingen musste, beschreibt
dieses Buch.
Wie ein roter Faden zieht sich die Filmaufnahme aus dem
Parlament durch das Werk, in der bewaffnete Soldaten den Plenarsaal während
einer Sitzung stürmen und die versammelten Politiker mit gezogenen Waffen
einzuschüchtern versuchen.
Mit literarischer Präzision zerlegt Cerca den Mitschnitt in
einzelne Standbilder, anhand derer er die spannungsgeladenen Monate zuvor wie
auch die unmittelbare Zeit nach dem Putschversuch wie ein Panorama ausbreitet.
In kleinsten Gesten der Akteure findet der Autor immer wieder Anlässe und
Hinweise, die beim Erfassen dieses historischen Momentes hilfreich sind.
Andere Autoren mögen beim Versuch, Geschichte nicht nur als
reine Abfolge von Fakten zu beschreiben und spannend zu erzählen, ins
Schwadronieren kommen. Javier Cercas passiert dies nicht ein einziges Mal. Er
würdigt den Gegenstand seines Buches mit sachlicher Distanz und beschreibt ihn
mit literarischer Präzision und Eleganz. An keiner Stelle wirkt das wie der
literarische Taschenpsychologe.
„Anatomie eines Augenblickes“ ist ein Sachbuch, ein Polit-Thriller,
Psychogramm eines dem Tode geweihten Regimes. Es beschreibt das Drama eines
ganzen Landes und die Tragik der handelnden Personen eindringlich, intensiv und
sensibel. Besser als die historische Vorlage hätte sich dies der Romanautor
Javier Cercas nicht ausdenken können.
Es muss also nicht wundern, wenn ich dieses Buch unbedingt
weiterempfehle. J
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