Sonntag, 11. Juni 2023

Fernando Aramburu: Patria


(Übersetzung: Willi Zurbrüggen)

„Da geht sie, die Arme, um an ihm zu zerbrechen.“ (Seite 7)

„Patria“ erzählt auf über 700 Seiten von der Unmöglichkeit zu Verzeihen und warum es so überlebenswichtig ist, es dennoch zu versuchen. In einem Mikrokosmos lässt Aramburu zwei ursprünglich befreundete Familien in einem baskischen Dorf sich entfremden bis hin zum Mord. Der ist aber nur der Auftakt zum nicht weniger tragischen Unvermögen, den Hass zu überwinden.

Die Geschichte spielt vor dem Hintergrund des Kampfes der ETA, der baskischen Befreiungsorganisation, die aus dem Untergrund das Leben der Dorfbewohner immer stärker prägt. Der Anfang der hier erzählten Geschichte liegt irgendwo in den Achtzigern des letzten Jahrhunderts. Die ETA gilt den einen als Heldin des baskischen Volkes, für dessen Befreiung sie kämpft. Ein sozialistisches, eigenständiges Baskenland soll es werden, im Gegensatz zum zentralistischen, in Francos faschistischem Schatten stehenden Spanien.

Die Väter der beiden Familien, einer ist Unternehmer, der andere Fabrikarbeiter sind befreundet, widmen sich sonntags gemeinsam dem Radsport. Die Mütter gelten ebenso als Freundinnen. Die jeweils zwei Kinder wachsen gemeinsam auf. Parallel zur eigentlich idyllischen Freundschaft der Familien politisiert sich die Stimmung im Dorf zusehends. Bist du für oder gegen die ETA und deren Kampf? Die Dorfjugend wird vom Wirt einer zentralen Kneipe für die ETA angeworben oder zumindest politisiert, deren Eltern hören Ähnliches in den Predigten des Pfarrers. Unmerklich ziehen sich Gräben durchs Dorf, zwischen Freunden aber auch Familienmitgliedern. Wie stehst du zum Kampf der ETA?

Der Unternehmer gerät, womöglich weil er Unternehmer und damit ja Kapitalist ist, ins Visier der ETA. In anonymen Briefen wird er, wie viele andere auch, dazu aufgefordert, „freiwillig“ an die ETA zu spenden. Zunächst lässt er sich das gefallen. Als er in Verzug gerät, tauchen Gerüchte über ihn im Dorf auf. Sprüche gegen ihn werden an Mauern geschrieben. Er wird zum Freiwild erklärt, als er auf diese Einschüchterungen nicht eingehen will. Sein Radsportfreund zieht sich, wie viele andere auch, von ihm zurück. Sie alle wollen nicht riskieren, dass der Schatten, der auf dem Unternehmer nun lastet, auch sie betrifft.

Der Fabrikarbeiter selbst ist nicht einmal entschiedener Befürworter der ETA. Aber seine Frau und der älteste Sohn klingen immer entschiedener, fanatischer. Also fügt er sich drein. Und ganz ohne dass es einen großen Krach oder Streit gegeben hätte, haben sich die Familien entfremdet. Die Kinder spielen nicht mehr zusammen, die Väter verbringen ihre Freizeit getrennt, die jeweils sehr bestimmenden Mütter finden nicht mehr zueinander.

Die Situation um den Unternehmer verschärft sich über die Zeit, in der sich gleichzeitig der Älteste des Fabrikarbeiters bei der ETA bewirbt, in den Untergrund geht und einer ihrer Kämpfer wird. Als der Unternehmer schließlich tatsächlich von einem Kommando der ETA ermordet wird, steht der Verdacht im Raum, dass der Sohn seines ehemaligen Freundes der Täter sein könnte.

Jahre vergehen, in denen das Leben für beide Familien weitergeht. Die Witwe beschließt irgendwann, dass es an der Zeit sei, ihr eigenes Haus im Dorf, aus dem sie verzogen war, wieder zu besuchen. Diese Besuche bringen alles in Bewegung, denn sie bleiben der anderen Familie nicht verborgen.

So wie die Familie des Ermordeten von diesem Mord in Mitleidenschaft gezogen wird, weil sie das Opfersein nicht mehr loswerden können, so klebt all das auch am Leben der anderen Familie, deren ältester Sohn als Terrorist der ETA im Gefängnis sitzt.

Was will die Witwe im Dorf? Will sie provozieren, ihr Leid zur Schau tragen? Oder will sie einfach nur ein bisschen ihres eigenen Lebens zurückgewinnen. Die ehemalige Freundin und Mutter eines Terroristen hat sich längst eingerichtet in ihrer ganz eigenen Opfergeschichte. Und die lässt nicht zu, den Verlust der Witwe anzuerkennen. Wie kann ein solches Chaos, dass historische Kräfte im Leben einfacher Menschen angerichtet haben, jemals wieder entwirrt werden. Wie kann hier Ausgleich, Verständigung oder gar Verzeihen möglich sein?

Aramburu begleitet die beiden Familien und die jeweiligen Familienmitglieder sehr eng. Bedrückend ist es zu lesen, mit welchen unterschiedlichen Strategien sich alle hier ein Leben nach dem Mord zu erringen versuchen und oft genug dabei scheitern. Gerade durch diese enge Begleitung, die alle hier lebendig und menschlich werden lässt, ist sehr bald gar nicht mehr klar, wer hier nur gut oder nur böse sein soll.

Selbst mit der schon fanatischen Anhängerin der ETA, der Mutter des mutmaßlichen Mörders, konnte ich irgendwann nur noch schwer hart ins Gericht gehen. Nicht, weil ich ihre Entscheidungen und Engstirnigkeiten rechtfertigen wollte, sondern weil Ideologie hier zu nachgerade psychischen Verformungen führt, aus denen ein Mensch allein kaum noch herausfinden kann. So schnell ist Menschlichkeit, Empathie, Freundschaft zerstört – für Parolen für oder gegen etwas.

Der Text ist keine leichte Lektüre, die Story keine mitreißende. Aber mir zumindest ging die erzählerische Intensität sehr ans Herz. Die vielen Zeit- und Perspektivwechsel zwangen mich beim Lesen zum ständigen Hinterfragen meiner Einschätzung der Leute und ihres Handelns. Ob die Geschichte eine wahre oder nach wahren Begebenheiten erzählte ist, ist leider nicht vermerkt. Aber ich kann mir gut vorstellen, dass eine Situation wie die in dieser Region Spaniens genau solche Geschichten hervorgebracht hat.

Kurz und gut: Eine großartig geschriebene Geschichte über Schuld und Vergebung. Lesen!

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