Sonntag, 13. August 2023

André Aciman: Call me by your name. Ruf mich bei deinem Namen


(Übersetzung: Renate Orth-Guttmann)

„‘Später!‘ Das Wort, die Stimme, die Attitüde.“ (Seite 9)

Über die wundersame Anziehung, die Geschichten von jungen Menschen, Kinder oder Jugendliche, auf uns auszuüben scheinen, habe ich an dieser Stelle ja schon das eine oder andere Mal nachgedacht. Und ich kann mich dem ja auch nicht wirklich entziehen. Also, hier hätten wir die Verwirrungen rund um eine erste Liebe, Hormone und Sex und die Lektionen, die uns Enttäuschungen lehren. Da es sich hier um eine queere, bzw. schwule Liebesbeziehung handelt, geht es auch um Repräsentation. Voilá!

Die überaus erfolgreiche Verfilmung des Stoffes von 2017 dürfte auch dem Roman eine zusätzliche Aufmerksamkeit beschert haben, die er vermutlich zuvor nicht erfahren hatte. Auch ich wurde erst durch den Film auf das Buch aufmerksam. Wie so oft mochte ich den Film erst nach dem großen Hype darum sehen. Der Roman musste dann noch einmal eine ganze Weile warten, bis ich befand, das sei jetzt eine gute Sommerlektüre. Und einmal mehr mag ich den Lobeshymnen auf beides gar nichts absprechen.

Die Geschichte von Elio führt uns ins sommerlich träge Italien der 80er-Jahre. Wie jeden Sommer residiert der 17-Jährige mit seinen Eltern in einer alten, großen Villa am Meer. Elio wächst in einem akademischen Elternhaus auf, spielt Gitarre und Klavier, transkribiert Musik nach Gehör und hat philosophische, sprachwissenschaftliche, literarische Themen schon mit der Muttermilch aufgesogen. Jeden Sommer verbringt ein Doktorand einige Wochen als Gast in der Familie, um dem Vater bei Korrespondenzen etc. zur Hand zu gehen und um an den eigenen Forschungen weiterzuarbeiten. Für Elio ist das eine mitunter willkommene Abwechslung.

Oliver, ein junger Dozent aus den USA, ist mehr als willkommen. Der junge Elio entwickelt eine von Beginn an schon fast obsessive Faszination auf den Gast. Das Gefühlschaos verschlingt die Wochen, die der Besuch andauert, und wird ihn für sein weiteres Leben prägen.

Erinnert ihr euch noch an das erste Mal, das ihr diese unbenennbare Anziehung zu jemandem gespürt habt. Jedes Wort dieser Person verursachte ein Kribbbeln, die Stimme hätten wir unter tausenden sofort herausgehört, ein Blick konnte uns versteinern oder dahinschmelzen lassen. Niemals zuvor konnte eine Armbeuge, ein Halsansatz, die Hände – alles an dieser Person eben – so sehr den Blick fesseln, dass allein schon die Vorstellung einer Berührung alles knistern ließ. Das in etwa ist der Zustand, in dem Elio sich befindet. Ausnahmezustand. Alles ist auf Oliver ausgerichtet.

Ist der junge Amerikaner da, wiegt jede Geste, jedes Wort, jeder Blick tonnenschwer. Elio fühlt sich ungenügend, unbeachtet und ein Seitenblick reicht aus, um ihn alle Sonnenstrahlen dieser Welt zu bündeln und reine Seligkeit durch seine Adern zu pumpen.

Die Geschichte wäre aber nur halbherzig erzählt, wenn der ältere Elio, der die Geschichte erzählt, nicht auch von dem Hormonchaos berichten würde, in das das jüngere Ich stürzte. Der junge Mann will Oliver intellektuell beeindrucken, in seine Schranken weisen und fantasiert sich gleichzeitig in seine Arme, in sein Bett und kann gar nicht aufhören, sich alle möglichen Formen der Hingabe auszumalen. Allein Oliver bleibt die meiste Zeit über ein Mysterium, das Elio einfach nicht entschlüsseln kann.

Die Story wäre natürlich nur halb so fesselnd, wenn Elio bekäme, was er ersehnt, und dann würde dieser Zustand den Rest seines Lebens anhalten. Er muss sich folgerichtig dem stellen, was andere, seine Familie, Freunde oder Fremde wohl denken mögen. Und Elio muss zur Kenntnis nehmen und aushalten, dass Oliver noch ein anderes Leben führt. Eines, an dem er keinen Anteil hat.

Der Film endet hier, mit Elio, der vor dem Kamin kniet, durch die Kamera hindurchschaut, während seine Tränen von den Wangen in die Glut tropfen. Ein wehmütig wissendes Lächeln drängt sich in seine Miene.

Der Roman erzählt weit darüber hinaus. Zum Glück, auch wenn ich den Film vollkommen rund erzählt finde. Um denjenigen, die das Buch noch vor sich haben, nicht den Spaß zu rauben, spare ich mir hier den Spoiler.

André Aciman schreibt wirklich gut. Gleich zu Beginn empfand ich bei seiner Sprache eine ähnliche Irritation wie bei den ersten Bildern des Filmes. Es wirkte auf mich allzu ältlich. Spannenderweise wurde dieser Effekt sowohl beim Text als auch bei den Bildern des Filmes von Sequenz zu Sequenz, von Szene zu Szene plausibler.

Auch die sich auftuende Innenwelt von Elio erschien mir im ersten Moment allzu dramatisch, pathetisch, launenhaft. Aber auch hier gelang es Aciman, diese unheimlich intensive Phase im Leben eines jungen Menschen bestens in Worte und Szenen zu fassen. Genauso schwülstig, feucht verträumt und vieles mehr fühlte es sich doch schließlich früher einmal an. Also in meinem Früher. Ihr könnt jetzt still nicken, lächeln oder euch euren Teil denken. 😊

Und ja, zum Stichwort Repräsentation, natürlich hätte auch ich so etwas gern sehr viel früher in meinem Leben lesen wollen. Gegen das Gefühl, mit all diesem Chaos in Hirn, Bauch und Herz allein zu sein.

Kurz und gut: Noch einmal einen Sommer mit Elio und Oliver verbringen! Einfach lesen!

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