Freitag, 19. Juli 2024

Grit Lemke: Kinder von Hoy. Freiheit, Glück und Terror


Nullte Stunde, Montagmorgen, Planetarium.“ (Seite 7)

Mal wieder literarisch im Osten unterwegs – dieses Mal: Hoyerswerda. Ich war da noch nie, kenne zwar Bilder, mindestens die von 1991, aber darin erschöpft es sich auch. Dokumentarischer Roman klingt ja auch erstmal interessant. Also hab ich neugierig angefangen zu lesen.

Grit Lemke erzählt im Wesentlichen eine Geschichte ihrer Generation, sie ist 1965 geboren, mit der sie in Hoyerswerda aufwuchs und erwachsen wurde. Spannend an diesem Projekt ist, dass sie in ihre autobiografisch fundierte Erzählung Stimmen von Menschen mischt, die Teil ihrer Vergangenheit sind. Das wirkt kein Stück gekünstelt und verstärkt den Eindruck, hier mehr als nur eine Perspektive lesen zu können.

Die Generation, von der hier die Rede ist, kam nach Hoyerswerda, weil ihre Eltern zumeist im Energiekombinat „Schwarze Pumpe“ gearbeitet haben. Und ihr Hoyerswerda bestand aus den zehn geschichtslosen, neugebauten Wohnkomplexen, der Platte eben. Diese neu hochgezogene Stadt hatte offenbar auch im innerstädtischen Beziehungsgeflecht wenig mit der Altstadt zu tun.

Freiheit und Glück im Untertitel beziehen sich sicher auf die geschilderte Erfahrung einer Kindergeneration, für die diese Neustadt ein großer Abenteuerspielplatz gewesen sein dürfte. Die Eltern arbeiten im Schichtbetrieb und alle werden irgendwie auch von den Eltern der Freund:innen oder den Nachbar:innen mitgroßgezogen. Da die Neustadt anscheinend im Wesentlichen von jungen Familien, deren Kindern und kaum von alten Menschen bewohnt war, dürfte das den Eindruck verstärkt haben, ohne so manche Zwänge aufzuwachsen, wie sie an anderen Orten durchaus Gang und Gäbe waren.

Die Autorin und ihre Freund:innen begeistern sich als Jugendliche und junge Erwachsene für Kunst und Kultur, gründen ihren eigenen Klub, in dem auch Gerhard Gundermann eine Rolle spielt. Geplant, ungeplant finden sie sich mit dadaistischen Experimenten in kulturell-künstlerischer Opposition wieder. Und soweit könnte das ja eine irgendwie friedvolle Geschichte gewesen sein.

Allein es ist natürlich vollkommen klar, dass die Entwicklung in der Stadt und damit das Leben dieser jungen Menschen eben genau auf die unsäglichen Ereignisse 1991 zusteuert, mit denen Hoyerswerda in der Geschichte traurige Berühmtheit erlangte. Als mit der Wiedervereinigung auch in dieser Stadt die ökonomische Abrissbirne herumschwingt und einen Kahlschlag hinterlässt, machen Neonazis Jagd auf ausländische Arbeitskräfte, die zuvor von der DDR angeheuert wurden. Das Ziel: eine „ausländerfreie Stadt“.

Die hier beschriebene Generation vermag dem nichts entgegenzusetzen. Was bitter genug ist, weil es ihren vermutlichen Idealen entsprochen haben dürfte. Aber auch ihre Eltern haben offenbar geschwiegen, wenn sie nicht gar inmitten der Einwohnerscharen ebenfalls Beifall geklatscht haben. Hätten sie anders agieren können, sollen, müssen?

Die Schilderung, wie sie einen Kulturabend veranstalten, währen wenige hundert Meter entfernt der Mob tobt, war beim Lesen für mich ein Schlag in die Magengrube. Auch, weil ich gar nicht mal sagen kann, ob ich es diesen damals jungen Menschen vorwerfen wollte. Aber dieses laute Schweigen dröhnt beim Lesen wirklich schmerzhaft in den Ohren.

Die DDR, in der ich zehn Jahre nach Grit Lemke zur Welt kam und in der ich aufwuchs (in Nordwest-Thüringen), wirkt auf mich nachträglich wie auf einem anderen Planeten. Nicht wahnsinnig weit entfernt aber weit genug, um diese Geschichten wie durch ein Fernglas wahrnehmen zu können. Genügend Details erkenne ich selbst wieder in den Anekdoten und Beschreibungen ihrer doch glücklichen Kindheit.

Und wenn ich so drüber nachdenke, fallen mir auch Parallelen aus der Nachwendezeit ein. In meinem Dorf war natürlich alles ganz gesittet, aber nicht weit entfernt, galt die Trennung in Rechts oder Punk auch. Wir hörten das immer wieder. Dazu brauchte es nicht mal tatsächlich ausbrechende Pogromstimmung. Gewalttätig war die Erfahrung dieser „Baseballschlägerjahre“ genannten Zeit für viele alle mal.

Ergänzen würde ich noch die Faszination all des Neuen und Möglichen für uns Jugendliche damals. Aber dieses Aufbruchgefühl blieb stets umrahmt von einer oft gespürten Unsicherheit, Resignation, Zukunftsangst der Eltern, also derer, die uns hätten einen Halt geben sollen. Diese Eltern kommen in dem Buch von Grit Lemke vor allem in dieser Zeit bemerkenswerterweise auch so gar nicht mehr vor.

Letztlich lese ich solche Bücher ja auch, um mir selbst ein Bild davon machen zu können, was mit uns Ossis denn nun eigentlich los ist, angesichts der Zustimmungsraten, die die Nazis der AfD und andere derzeit gerade im Osten so erfahren. Gab es zum Beispiel nach den Hasstaten von Hoyerswerda oder Rostock einen Moment, in dem die Menschen spürten, wie unsäglich falsch das alles war?  Sorgte die Scham darüber angesichts der Gewalt versagt oder geschwiegen zu haben dafür, dass das Schweigen darüber immer weiter ging. Und ist die irgendwie erkennbare Trotzhaltung heute immer noch Ergebnis dieser Scham über sich selbst? Und ja, ich weiß, dass es hierauf keine einfachen Antworten gibt. Außer, dass wir alle in der Hand haben, wie wir heute handeln.

Dieser Band hat mich beim Lesen berührt und böse aufgewühlt, auch wenn ich trotzdem noch mehr Fragen als Antworten habe. Unterm Strich fand ich die Lektüre dieses Bandes um Längen hilfreicher als die Polemik von Dirk Oschmann. Dem will ich ja gar nix Böses, aber „Kinder von Hoy“ hat für mich sehr viel mehr Substanz und Wucht.

Kurz und gut: Ostalgie, die wehtut. Gut so, unbedingt lesen!

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