Sonntag, 7. Juli 2024

Dirk Oschmann: Der Osten: eine westdeutsche Erfindung


„Das vorliegende kleine Buch stellt die erweiterte Fassung eines Artikels zur innerdeutschen Gemengelage dar, den ich am 4. Februar 2022 unter dem Titel Wie sich der Westen den Osten erfindet in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung veröffentlicht habe.“ (Seite 11)

Na huch, eine wilde Debatte im Feuilleton und ich lese mal wieder schonungslos hinterher. Also so zeitlich gesehen. 😉 Das soll mich aber wie immer nicht davon abhalten, trotzdem noch ein paar Gedanken zur Lektüre aufzuschreiben.

Vorneweg aber wieder mal die Erkenntnis: Je weiter mein Aufwachsen in der DDR zurückliegt, umso öfter führt mich meine Lesereise dann doch wieder zurück. Meist spielt die Wendezeit eine Rolle, häufiger noch aber die Zeitspanne seither, als aus der DDR Ostdeutschland wurde. Lausche ich in mich hinein, verbinden sich persönliche Anekdoten, die eine Biografie nun einmal auch ausmachen, mit Einschätzungen, die wohl oft erst mit zeitlichem oder räumlichem Abstand möglich und erträglich werden. Man bekommt das Kind aus dem Osten heraus aber niemals den Osten aus dem Kind? – Mal in kleiner Abwandlung einer dieser Volksweisheiten und irgendwie rhetorisch gefragt.

Es gibt so einige Dinge, bei denen ich den Erfahrungen und Schilderungen Oschmanns bestens folgen kann. Das Sich-Erklären-Müssen zum Beispiel. Nach dem Abitur hab ich, zumindest für die Arbeitswoche, den Osten verlassen. Und immer dann, wenn ich mit Menschen aus den alten Bundesländern – oder eben Wessis – zu tun hatte, ergaben sich Gesprächssituationen, die mich geradezu zwangen oder dafür sorgten, dass ich mich gezwungen sah, mich zu erklären – als Ossi. Ob das nun politische Einschätzungen oder Einstellungen waren oder Alltagserfahrungen, immer wieder war etwas zu erklären, habe ich mich erklärt. In den 90ern war das schon noch massiver und alltäglicher als heute.

Heute entdecke ich mich doch ab und an dabei, dass ich Gespräche, Reaktionen und Handlungen anderer danach abscanne, ob ich eine Ostsozialisation ausmachen kann oder halt „typische Wessis“. Komisch, weil es mir eigentlich egal ist. Offenbar bin ich aber, egal ob ich will oder nicht, Teil einer Identitätsdebatte.

Ein anderes Ding: Ja, die Ossis sind auch in meiner Wahrnehmung erst nach dem Ende der DDR aufgetaucht. War deren Erfindung eine der Wessis, die all die unsäglichen Zurücksetzungen rechtfertigten, oder aber war es eine Trotzreaktion derer, die sich betrogen fühlten, betrogen um ihre Biografien, ihre Vergangenheit, ihrer Gegenwart oder auch ihrer Zukunft? Vielleicht stimmt ja auch beides gleichzeitig. Zumindest fügten sich die Menschen irgendwie in das System, dass sie zu DDR-Bürger:innen machte, ebenso wie in das neue System, in dem sie dann Ossis wurden.

Ja, schon klar, das ist grob gehauen, weil es ja immer und überall auch Leute gab und gibt, auf die das Raster nicht zutrifft. Aber jeder Besuch zuhause im Osten, ob in den 90ern oder auch später, schien mir dieses Raster zu bestätigen.

In dieses eher passive Sicheinfügen, gepaart mit viel Jammern und Klagen (hier ohne Wertung der Berechtigung oder nicht) mischte sich aber auch nach meiner Wahrnehmung schon früh Wut. Und Wut spricht ja schon auch aus dem lautstarken Text von Oschmann. Das ist, und dafür bin ich Autor und Text dankbar, eine andere Wut als die, die PEGIDA und Co. irgendwann anfingen auf die Straße zu tragen. Aber es ist eine Wut, die natürlich mit Identität zu tun hat, sei sie nun selbstgereift, übergestreift oder angeheftet worden.

Es gibt, wenn ich so drüber nachdenke, tatsächlich gar nicht so viel in dem Buch, wo ich dem Autor widersprechen möchte. Aber dennoch verursachte mir die Lektüre ein Unwohlsein. Ich verstehe die vehement vorgetragene Kritik, ich teile das Entsetzen und die Enttäusch über zum Beispiel die beschämend niedrigen Zahlen von Ossis in Führungsverantwortung selbst im Osten. Und trotzdem, hab ich den Drang widersprechen zu wollen.

Vielleicht behagt mir eine mögliche Konsequenz nicht, die sich bösartig aus dem Buch ziehen ließe, bei der ich mir schon recht sicher bin, dass der Autor sie nicht gemeint hat. Die Konsequenz wäre möglicherweise das Freisprechen von eigenen Unzulänglichkeiten, Dummheiten und Schlimmerem. Und damit lande ich natürlich zielsicher beim Wahljahr 2024, dass sich 2022 zur Fertigstellung des Buches ja erst in der Ferne abzeichnete.

Das ist der Moment, in dem ich mit Blick auf Wahlergebnisse, Debatten vor Ort etc., selbst am Osten verzweifeln mag. Gerade weil ich hier und da so viele grandiose Menschen kennenlernen konnte, die Oschmanns Kritik sicher teilen und trotzdem anders handeln. Anders als der medial vermittelte „Ossi“, den ich aber eben auch gut genug aus der freien Wildbahn kenne. Was hilft da aber dieses Buch?

Wenn die Intention war, der zutiefst westdeutsch geprägten Gesellschaft ordentlich einen einzuschenken und mit dem Holzhammer Punkte einzuhämmern, die allseits bekannt und leider gar nicht neu sind, dann ist das sicherlich für einen kurzen medialen Moment gelungen.

Im Osten aber befürchte ich, dass es über ein lapidares „endlich sagts mal eener“ kaum hinausgeht. Den Ossis hat dieses Buch, für mein Gefühl nicht viel zu sagen. Vermutlich, nein ganz sicher, wurde das Dirk Oschmann schon oft genug gesagt, dass sein Debattenband letztlich genau nach den Regeln der Debatte spielt, die er beklagt. Ich glaube, das ist auch, was mir das Unwohlsein beim Lesen verursacht hat. Aber es ist ja, zum Glück, nicht das einzige Buch zum Osten. Einige mehr fanden ja schon ihren Weg auf meinen Lesestapel und auch in mein Lesetagebuch.

Kurz und gut: Ich hab mich an dem Text gerieben, bin aber froh, dass ich ihn letztlich doch gelesen habe. Ist doch mal was. 😉

#lesesommer #sachbuch #dirkoschmann #ullstein #deutschland #ostdeutschland #gesellschaft #debatte #ossi #identität #spaltung #polbil #lesen #leselust #lesenswert #leseratte #bücher

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen