„Sieht man diesen Ort zum ersten Mal, das Schloss mit der schönbrunnergelben Fassade und der abbröckelnden graugelben Rückseite, den Park mit seinen Wiesen und Sportplätzen, seinem bewaldeten Hügel und seiner Grotte, dann ist die Mauer, die ihn umgibt und deren Höhe je nach Steigung der Argentinier- und Favoritenstraße zwischen zwei und vier Metern schwankt, wahrscheinlich das Letzte, was einem auffällt.“ (Seite 5)
Antizyklisches Lesen – die Nächste. 😊
Tonio Schachingers Roman gewann 2023 den Deutschen Buchpreis und war auch in den sozialen Medien eine ganze Zeitlang ziemlich präsent. Mit einer mittelkleinen Verzögerung kam ich dann jetzt auch mal dazu den Text zu lesen. Hier in der Lizenzausgabe der #BüchergildeGutenberg.
Das sind die Zutaten der Geschichte: Wien, so wienerisch, wie man es sich vorstellt, wann man (also ich) es noch nicht gesehen hat. Das Internat in einer ehemaligen Residenz der Habsburger, ein etwas verkorkster bis despotischer Lehrkörper, Schüler der GenZ (glaube ich) und eine hervorstechende Erzählstimme. Achja, das Computerspiel Age of Empires kommt auch noch vor.
Till (15) ist die Hauptfigur und Schüler in diesem Internat, wohnt aber mit seiner Mutter in der Nähe. Im Grunde ist es eine Coming of Age Geschichte, bei der wir Till ein Stück weit durch seine Jugend begleiten.
Da ist zum einen der Erzählstrang, in dem der Dolinar, der despotische Klassenleiter, seine Schüler:innen tyrannisiert. Till versucht nur zu überleben, ohne der Schule sonderlich etwas abgewinnen zu können. Es ergibt sich mit den verschiedenen Charakteren der Klasse ein disparates Bild, das sich dann doch schon wieder so zusammenfügt, wie sich die Klasse einer Eliteschule so vorstellen lässt.
Freunde hat Till eigentlich keine. Das heißt, es gab einen, mit dem er zumindest kurzzeitig die Leidenschaft fürs Zocken teilte. Aber das verliert sich wieder. Die Ersten, zu denen Till tatsächlich eine Freundschaft und Nähe aufbaut, sind Feli und Fina, zwei Mädchen, die sich unerlaubterweise im Raucherbereich der Schule rumtreiben. Sie sind es auch, die Till aus dem täglichen Schultrott unter des Dolinars Knute herausreißen.
Und da ist noch das Spiel Age of Empires, zu dessen TOP 10 Spielern Till bereits mit 15 Jahren gehört. In einer Art Parallelleben genießt er unter den Gamern etwas Ruhm und Prominenz. Sein sonstiges Leben wird davon quasi nicht berührt.
Achja, es gibt noch eine geschiedene Ehe und einen Vater, der im Verlauf der Geschichte stirbt und Till zum Halbwaisen werden lässt.
Ich muss ja zugeben, dass mich der Roman eher etwas ratlos zurückgelassen hat. Er ist gut und souverän erzählt, keine Frage. Die Erzählstimme aber ging mir ehrlicherweise spätestens nach einem Drittel des Buches doch auf die Nerven. Schon klar, dass es um das Abgehobene, die Attitüden, die Fassaden und das Alles geht. Da wird das Hohle, Phrasenhafte und Unechte beschrieben und kommentiert. Für meinen Geschmack nimmt die Erzählstimme aber die gleiche Attitüde ein wie die Protagonist:innen, die sie beschreibt. Und selbst wenn ich mir das Ganze im besten Wienerisch vorgetragen vorstelle, wird mir das dann schnell unsympathisch.
Es gibt ja genügend Beispiele für beteiligte, involvierte Erzählstimmen, die nicht versuchen als neutrale Instanz zu erzählen. Im Zweifelsfall, ist dann aber für die Leser:innen das Verhältnis der Erzählstimme zu den Figuren geklärt, weil sie Teil der Geschichte ist etc. In diesem Fall scheint die Stimme vom Caféhaus auf das Personal herabzuschauen und schon im Schmäh zu kommentieren und irgendwie auch zu lästern.
Nicht falsch verstehen, ich mag Lästern. Aber in einem Roman schätze ich es doch, wenn das Gefühl vorherrscht, dass den Figuren wenigstens von der:dem, die:der sie erschaffen hat, etwas Wohlwollen entgegengebracht wird – seien sie nun gut oder schlecht, stolpern sie verdient oder unverdient von Katastrophe zu Wendepunkt usw.
Erzählstimme und mein Eindruck, eigentlich nicht wirklich viel Tiefgehendes über die Figuren erfahren zu haben, lassen mich bei diesem Roman daran zweifeln. Vielleicht ist es ja als doppeltes Spiel gedacht, so a´la Fassade hinter der Fassade – literarisch überzeugt hat es mich leider nicht. Umso mehr, weil die Sprachregister, die hier gezogen werden, zeigen, dass das Schreibenkönnen nicht das Problem ist.
Deutlich unbefriedigt stelle ich diesen Roman also ins Regal. Dit war nix.
Kurz und gut: Irgendwie mehr Hui als dann tatsächlich drin ist. Kann man mal lesen!
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