Freitag, 17. Januar 2025

Ines Geipel: Umkämpfte Zone. Mein Bruder, der Osten und der Hass


„Es liegt Schnee, endlos viel und ständig kommt neuer dazu.“ (Seite 7)

Bei Dirk Oschmanns Buch über den Osten, den sich der Westen ausgedacht haben soll, war mein erster Gedanke, der Text sei eigentlich nur für „Wessis“ interessant. Dieses Buch von Ines Geipel sollten wir „Ossis“ lesen – und zwar alle. Diejenigen, die rückwirkend alles toll finden aber auch die, welche für ihren Bruch mit der DDR nicht die Wende brauchten.

Geipel erzählt anhand der Geschichte ihrer Familie eine etwas andere Geschichte der DDR, die mir zumindest in Erzählungen von Menschen im Osten so eher selten unterkommt. Wie typisch sie ist, das kann ich persönlich weder sagen noch einschätzen. Authentisch ist sie in jedem Fall, dass lässt sich aus ihren Worten herauslesen.

Der Vater der Familie Geipel arbeitet als Auslandsspion der DDR, während die Familie in ihrem scheinbar normalen Leben nichts davon weiß. Normal heißt in diesem Fall aber, dass eine unglaublich gewalttätige Strenge und Disziplin schon in jungen Jahren von den Kindern Ines und ihrem Bruder abverlangt werden. Inklusive einer unbedingten Treue zum System.

Mit 14 Jahren wurde sie auf ein Internat geschickt, eine Spezialschule für zukünftige Russischlehrer:innen. Mit 17 begann ihre sportliche Kariere im Sprint und im Weitsprung. Die junge Ines fand sich wieder in dem inzwischen oft besprochenen Doping- und Zwangssystem des DDR-Sports, aus dem sie 1985 erst wieder ausschied.

Als Studentin geriet sie, obwohl Mitglied der SED, mit dem System aneinander und floh im Sommer 1989 über Ungarn in den Westen, wo sie später Philosophie und Soziologie studierte.

Jede:r in der DDR Aufgewachsene kennt die dort hochgehaltene Traditionslinie, die von den kommunistischen Rebellen wider die SPD in den antifaschistischen Widerstand und direkt in die DDR führte. Ines Geipel erzählt anhand ihrer Familiengeschichte von einer anderen Traditionslinie, die ein gewaltvolles Miteinander bis hinein in die Familie, Disziplin bis zur Selbstverleugnung und Unterwerfung – geistig aber auch körperlich – beschreibt.

Es entsteht ein Bild, das wenig mit der aufgeklärten, antifaschistischen und sozialistischen Gesellschaft zu tun hat, die offiziell verkündet wurde. Geipel erzählt von einer schier unaushaltbaren Enge, von einem Zurechtbiegen junger Menschen und das weit jenseits kuscheliger DDR-Nostalgie.

Ja, in dieses so kleine Land passten ganz offenbar unzählige Realitäten. Ich las atemlos und erschüttert von der, über die Ines Geipel hier schreibt. Auch wenn als gut 15 Jahre später Geborener derlei zumindest oberflächlich in meinem Umfeld auf einem kleinen Dorf nicht wahrgenommen habe, fällt es mir nicht schwer, das alles für möglich zu halten.

In all den aktuellen Debatten darüber, was Ostdeutschland und die Ostdeutschen denn nun seien, reicht es nicht, ausschließlich immer wieder auf die erfahrenen Kränkungen in den Transformationsjahren hinzuweisen. Auch das Leben in der DDR in all seinen Facetten muss ausgeleuchtet werden und eine Rolle spielen. Genauso wie die historischen und politischen Bewertungen des Systems.

Sich dem zu stellen, mit allem, was daran auch schmerzt, ist in meinen Augen eine Grundvoraussetzung, um im Hier und Heute die Spielart des Kapitalismus, in der wir leben, und auch die autoritär-libertären Gelüste so vieler zu kritisieren. Ich zumindest bin mir sicher, von welcher politischen Seite das nicht zu erwarten ist.

Kurz und gut: Macht Aua; gut für uns „Ossis“. Lesen, unbedingt!

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