„Der Dicke war an allem schuld, das würde er ihnen sagen.“ (Seite 9)
Schon der erste literarische Faustschlag mit „Saison der Wirbelstürme“ hat gesessen. Mit dem 2021 erschienenen neuen Band holt Fernanda Melchor erneut aus: knapp, präzise und treffsicher.
Am Pool einer luxuriösen Wohnanlage mit dem ambitionierten Namen Paradise lungert ein zu dicker, junger blonder Mann herum. Die Zeit schlägt er mit zu viel Alkohol tot. Gesellschaft hat er dabei immer wieder durch den gerade mal sechzehnjährigen Gärtner Polo.
So richtig paradiesisch fühlt sich der dicke Taugenichts nicht und fantasiert in einer Tour davon, dass die schöne Nachbarin unheimlich scharf auf ihn sei. Das malt Franco sich in den schillerndsten Farben aus und lädt Polo immer wieder zum gemeinsamen Besäufnis ein.
Der Gärtner kann nur davon träumen, in so einer Umgebung zu wohnen und hat einfach auch nichts Besseres zu tun, also setzt er sich eins ums andere Mal zu Franco und lässt sich mit Bier dafür entschädigen, dass er dessen Tiraden erträgt und aushält.
In diesen Selbstgesprächen Francos wird aus der schönen aber in der Realität unerreichbaren Nachbarin erst die begehrte Frau und Stück für Stück aus dieser ein Flittchen, eine Schlampe. Franco fabuliert sich immer mehr in Rage, sein Frust darüber, sein Leben nicht auf die Ketten zu bekommen und unsichtbar für die schöne Frau von nebenan zu sein wächst und gedeiht und wird sich mit aller schrecklichen Gewalt Bahn brechen.
Melchor schreibt vor dem Hintergrund einer misogynen Kultur in ihrem Heimatland Mexiko. Die Berichte über Femizide schaffen es seit einigen Jahren mit unschöner Regelmäßigkeit auch in die Berichterstattung hierzulande. Und das sind keine Berichte von exotischen Sandstränden und Mojitos im Sonnenuntergang.
Mit rauem Stil entfaltet Melchor hier, wie aus bierseligem Gefasel, viel Frust und vor dem Hintergrund einer frauenfeindlichen Kultur eine Frau immer mehr zum Objekt zunächst der Begierde und dann des unbändigen Hasses wird. Der Alkohol ist hier im Grunde nur der Brandbeschleuniger für eine Glut, die im männlichen Selbstverständnis schon angelegt scheint. Dies gilt zumindest für Franco, den man sich eigentlich wie den Prototypen eines Incels vorstellen kann.
Mit Polo stellt Melchor dem durch Frust und Alkohol enthemmten Franco zwar einen Mitläufer an die Seite, der aber als jüngerer und noch mit Skrupeln behafteter junger Mann auch die Möglichkeit eröffnet, dass Männer sich anders entscheiden können. Für Franco ist jede Hoffnung verloren – ebenso wie für seine letztlich wahllos ausgesuchten Opfer.
Dass die Erzählung des Verbrechens bei dem Blickwinkel der Männer bleibt und unbarmherzig draufhält, wird durch den schon erwähnten rauen und schnörkellosen Tonfall der Geschichte schon fast unerträglich zu lesen. Für diese Schonungslosigkeit ist Fernanda Melchor einmal mehr zu danken.
Kurz und gut: Ein präziser literarischer Faustschlag, genau dahin, wo es weh tut. Lesen, unbedingt!
(Übersetzung: Angelica Ammar)
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