„Müsste ich sie in einem Bild festhalten, denkt Ruth, es wäre dieses: Die goldene Pinzette an ihrem Kinn im Sonnenschein.“ (Seite 9)
Dystopien gehen immer. Vor allem, wenn es ohnehin keine weit verbreitete Zukunftshoffnung oder eine Idee gibt, die viele Menschen zu inspirieren vermag. Das nimmt dem Lesespaß auch erstmal nichts weg. 😊
Lilly Gollackner hat eine Welt entworfen, in der der Klimawandel nur noch wenige bewohnbare Flecke auf der Erde zurückgelassen hat. Unter der erbarmungslos brennenden Sonne gedeiht nur mittels innovativer Techniken überhaupt noch irgendwas. Wasser ist knapp und der Aufenthalt jenseits der überschatteten Rückzugsorte ist tödlich. Soweit so gut.
Jahrzehnte, bevor die Geschichte einsetzt, hat eine Seuche alle Männer dahingerafft. Übrig blieben die Frauen, die sich neu organisierten, mit Wissenschaft und Technik das Überleben sicherten und nur mittels künstlicher Fortpflanzung den Fortbestand der Menschheit gestalteten.
Die Hauptfigur Ruth ist die Präsidentin dieser Gesellschaft und leitet seit Jahrzehnten ihre Geschicke. Sie gehört zu der Generation, die noch mit Männern aufwuchs und lebte und diese neue Welt mit aufbaute und prägte. Doch es wird immer offensichtlicher, dass der Rat, dem sie vorsitzt, den Wechsel hin zu Ania vollziehen will. Sie ist jung, in dieser Welt aufgewachsen, energisch und hungrig nach dem Leben.
Während Ruth die junge Ania auf ihre Aufgabe vorbereiten soll, ringen widerstreitende Gefühle in ihr. Einerseits fasziniert sie die Selbstsicherheit und der Blick der designierten Nachfolgerin nach vorn. Andererseits glaubt Ruth, Ania sei noch nicht bereit und wisse viel zu wenig. Zum Beispiel warum es gut ist, dass es keine Männer mehr gibt.
Ania ist ein heller und wacher Geist. Ihr entgeht nicht, wie schwer sich Ruth mit der Übergabe tut und sie ahnt schnell, dass viele Geheimnisse vor ihr versteckt gehalten werden. Was hat es mit den Ernten auf sich? Welche Zerwürfnisse hinter den Kulissen gibt es da zwischen den Frauen der Gründergeneration? Werden bei den künstlichen Befruchtungen tatsächlich keine männlichen Kinder geboren? Lässt sich das nach Jahrzehnten erstarrte System wirklich einfach so fortführen?
Gollackner zeichnet diesen Machtkampf mit knappen Schilderungen eindringlich nach. Sie braucht nicht viel Brimborium, um diese Welt plausibel erstehen zu lassen. Die Dialoge und Reflexionsebenen machen aus diesem Roman mehr als eine nette Zukunftsgeschichte mit ein bisschen Grusel.
Denn wer will, kann den geschilderten Generationenmachtkampf natürlich auch auf die Entwicklungen der Frauenbewegungen der letzten Jahrzehnte beziehen. Generationen kämpferischer Frauen, die gar nicht so wenig in erbitterten Auseinandersetzungen erstritten haben und das irgendwann nicht mehr riskieren wollen. Zurückliegende Erfolge, deren Erinnerung sich wie ein Schatten auf den Blick in die Zukunft legt und die Sicht womöglich einengt. Nachfolgende Generationen, die ihre Kämpfe erst finden und führen müssen, das aber von einem anderen Ausgangspunkt tun können und müssen als ihre Mütter. Ich würde sagen, da steckt so einiges drin.
Dieser Roman ist mehr als reine Unterhaltung, ohne unendlich schwer daherzukommen. Eine gute Story, gut erzählt und Stoff zum Nach- und Mitdenken gibt es auch. Ehrlich, was will man mehr? 😉
Kurz und gut: Dystopie geht auch auf 180 Seiten – und zwar sehr gelungen. Lesen!
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