Sonntag, 10. November 2024

Steffen Mensching: Schermanns Augen


„Safranowka, ITL 47, genannt Artek II, war ein Nebenlager im Archangelsker Gebiet, hundertfünfzig Kilometer östlich von Kotlas, an der Bahntrasse nach Workuta gelegen.“ (Seite 7)

Die letzten Romane, die mich in die Sowjetunion unter Stalin führten, waren von Christoph Hein „Trutz“ und „Metropol“ von Eugen Ruge. Tatsächlich kam und kommt mir auch dieses Thema immer wieder unter. Und es ist ja kein Wunder, dass diese zahllosen Geschichten von Menschen, die ins Räderwerk des Stalinismus gerieten, ob als glühende Kommunist:innen oder als einfache Menschen, die nur leben wollten, noch immer nicht auserzählt sind.

Nun also dieses Mammutwerk von Steffen Mensching – bei dem ich jede einzelne Seite großartig fand.

Rafael Schermann, den es tatsächlich gab, lebte als gefeierter Graphologe in der Zwischenkriegszeit und kannte sie offenbar alle, die großen Namen aus Kunst, Kultur und Wissenschaft. Er tritt in die Geschichte dieses Romans ein als todkranker, alter, ausgemergelter Gefangener, bei dem nicht klar ist, wieso es ihn eigentlich in dieses unmenschliche und wahnwitzige Räderwerk des Lagersystems in der stalinistischen Sowjetunion verschlagen hat. Schermann landet in einem Nebenlager und verbringt seine Zeit zunächst in der Krankenstation.

Otto, ein junger Kommunist aus Deutschland, den es auf der Flucht vor den Nazis und von da in die Hände des sowjetischen Geheimdienstes gespült hat, drückt sich gerade vor der Arbeit in den Kolonnen, die täglich in den Wald ziehen, um dort unter Lebensgefahr Holz zu schlagen und zu verarbeiten. Da Schermann vorgibt, kein Russisch zu sprechen, hat Otto nun eine Aufgabe – für Schermann zu übersetzen.

Irgendetwas muss an diesem Neuen, an Rafael sein, dass selbst der Lagerkommandant die beiden immer wieder zum Verhör antreten lässt. Und langsam blättert sich in den Verhören und den Hinweisen aus Gesprächen das Leben des Rafael Schermann auf. Diese Begabung, aus Schriftschnipseln Schlüsse über die Schreibenden ziehen zu können. Damit begeisterte er zuvor europäische Geistesgrößen und fasziniert nun nicht nur den Kommandanten, sondern selbst den lagerinternen Mafiaboss.

In einer der vielen Besprechungen fand ich den interessanten Hinweis, welchen Stellenwert Schrift, das geschriebene und gedruckte Wort in dieser Welt einnehmen. Alle in dieser Welt scheinen auf die eine oder andere Art schriftgläubig zu sein. Hier diejenigen, die glauben wollen, aus wenigen handschriftlichen Worten mehr oder gar alles über die Schreibenden herausfinden zu können. Da diejenigen, deren Leben an wenigen Worten per Telegramm hängt. Oder auch diejenigen, die so sehr an nachgerade geheiligte Worte glauben wollen, dass sie ihr eigenes und das Wohl der Welt darin erblicken mögen.

Nicht zuletzt führt der, wie ich vermute, sehr penibel recherchierte Roman in eine unendlich unmenschliche Welt, in der der Einzelne gar nichts mehr zählt, Menschen zu Kakerlaken werden, Freundschaft und Zugewandtheit systemisch ausgemerzt werden – alles das, was das Grauen eines totalitären Regimes ausmacht.

Hütet euch vor Ideen, die zu einfach in Freund und Feind, schwarz und weiß einteilen – ließe sich darunterschreiben. Hütet euch und vor den einfachen, bequemen Wahrheiten und seht, was sie aus Menschen machen.

Menschings Verdienst ist es dabei für mich, einzelne Figuren bis ins Kleinste auszuzeichnen und greifbar werden zu lassen. Dabei bleibt jede einzelne der 820 Seiten lesbar und zwang mich förmlich noch eine und noch eine zu lesen. Für mich ein echtes Großwerk!

Kurz und gut: Sind doch nur 820 Seiten. Aber ehrlich – lesen! 😉

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