Samstag, 23. April 2022

Peer Meter & Isabel Kreitz: Haarmann


„Alles Menschenknochen!“ (Seite 8)

Im Jahr 1924 tauchen in der Leine in Hannover zahllose Knochen auf. Sie gehörten offenbar den zahlreichen jungen Männern, die seit Monaten in der Stadt spurlos verschwunden waren. Übrig blieben von ihnen nur die fein säuberlich abgetrennten Gebeine und Schädel. Und die Stadt erstarrt in Angst.

 

Die Zeichnungen führen uns eine Altstadt voller verwinkelter Gassen vor Augen, in denen die Menschen in einfachen Verhältnissen leben, kaum über die Runden kommen. Sie halten sich mit kleinen Geschäften, legal oder illegal, über Wasser. Der Schwarzmarkt und Prostitution blühen. Die Polizei greift, wenn überhaupt, eher bei letzterem durch.

 

Fritz Haarmann, dieser komische Kauz, schlägt sich ebenso durch. Er ist offenbar ein eher schlichtes Gemüt, recht roh in seiner Art. Aber bei ihm kann man immer mal wieder einigermaßen gutes Fleisch kaufen oder abgelegte Klamotten. Niemand will sich etwas dabei denken. Immer wieder wird er mit sehr jungen Männern gesehen, die er mitunter am Bahnhof aufliest, wo sie gerade mit nichts in der Stadt gestrandet sind. Er bietet ein Dach über dem Kopf für ein wenig Zuwendung.

 

Alles erscheint in dieser Geschichte so durchschaubar, wie es für spätere Generationen nur sein kann. Fritz Haarmann schleppt die Jungs ab, verführt sie, schlachtet sie und verkauft ihr Fleisch und ihr Hab und Gut später. Doch niemand will etwas sehen oder hören. Die Menschen scheinen wie abgestumpft in ihrer Angst und ihrer Not.

 

Doch auch die Polizei scheint kein wirkliches Interesse an der Aufklärung zu haben oder zumindest daran, Fritz Haarmann zu überführen. Es wird sich herausstellen, dass Haarmann als Polizeispitzel geführt wurde. Warum die Hand über ihn gehalten wurde, ist Gegenstand des folgenden Justizskandals.

 

Dieser großartig gezeichnete und erzählte Comic führt die Geschichte von vermutlich Deutschlands bekanntestem Massenmörder noch einmal vor Augen. Im Mittelpunkt steht dabei weniger Fritz Haarmann selbst als die sprach- und emotionslose Stadtgesellschaft, die den Hintergrund dieses Dramas bildet. Insofern kann ich zur Ergänzung nur das filmische Kammerspiel empfehlen, in dem Götz George den Fritz Haarmann in seiner erschütternden Einfachheit verkörpert.

 

Abgesehen von dem voyeuristischen Thrill, der ja immer irgendwie von solchen Geschichten ausgeht, regt sie natürlich auch immer die Frage an, ob das hier und heute auch noch so passieren könnte? Und während ich das tippe, kommen mir sofort zahlreiche Missbrauchsskandale in den Sinn, die in den letzten Jahren für Schlagzeilen sorgten. Auch hier lässt die schiere Anzahl der Opfer immer wieder staunen, wie all das in einer Nachbarschaft, unter den Augen von Behörden aber eben dennoch scheinbar unbemerkt geschehen kann. Warum das so möglich ist, weiß ich auch nicht zu sagen. Aber Geschichten wie die von Fritz Haarmann im kulturellen Gedächtnis zu erhalten, das ist sicher ein Verdienst dieses Comics.

 

Kurz und gut: Eher keine Kuschellektüre aber in jedem Fall unbedingt zu empfehlen. Lesen!

 

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