Mittwoch, 29. Januar 2025

Mosaik #590


50 Jahre #Abrafaxe – voll krass! Da gratuliere ich doch mal von Herzen und wünsche alles Gute für die nächsten 50! 😉

Wie spannend, dass ich gerade bei Sachbüchern recht oft bei Ur- und Frühgeschichte lande. Und schon streifen da auch die Abrafaxe herum. Ganz bestimmt werden sie Abenteuer erleben, die in den ernsten Sachbüchern nicht vorkommen. Aber unterhalten wird es mich sicher wieder vortrefflich. 😊

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Dienstag, 28. Januar 2025

Tonio Schachinger: Echtzeitalter


„Sieht man diesen Ort zum ersten Mal, das Schloss mit der schönbrunnergelben Fassade und der abbröckelnden graugelben Rückseite, den Park mit seinen Wiesen und Sportplätzen, seinem bewaldeten Hügel und seiner Grotte, dann ist die Mauer, die ihn umgibt und deren Höhe je nach Steigung der Argentinier- und Favoritenstraße zwischen zwei und vier Metern schwankt, wahrscheinlich das Letzte, was einem auffällt.“ (Seite 5)

Antizyklisches Lesen – die Nächste. 😊

Tonio Schachingers Roman gewann 2023 den Deutschen Buchpreis und war auch in den sozialen Medien eine ganze Zeitlang ziemlich präsent. Mit einer mittelkleinen Verzögerung kam ich dann jetzt auch mal dazu den Text zu lesen. Hier in der Lizenzausgabe der #BüchergildeGutenberg.

Das sind die Zutaten der Geschichte: Wien, so wienerisch, wie man es sich vorstellt, wann man (also ich) es noch nicht gesehen hat. Das Internat in einer ehemaligen Residenz der Habsburger, ein etwas verkorkster bis despotischer Lehrkörper, Schüler der GenZ (glaube ich) und eine hervorstechende Erzählstimme. Achja, das Computerspiel Age of Empires kommt auch noch vor.

Till (15) ist die Hauptfigur und Schüler in diesem Internat, wohnt aber mit seiner Mutter in der Nähe. Im Grunde ist es eine Coming of Age Geschichte, bei der wir Till ein Stück weit durch seine Jugend begleiten.

Da ist zum einen der Erzählstrang, in dem der Dolinar, der despotische Klassenleiter, seine Schüler:innen tyrannisiert. Till versucht nur zu überleben, ohne der Schule sonderlich etwas abgewinnen zu können. Es ergibt sich mit den verschiedenen Charakteren der Klasse ein disparates Bild, das sich dann doch schon wieder so zusammenfügt, wie sich die Klasse einer Eliteschule so vorstellen lässt.

Freunde hat Till eigentlich keine. Das heißt, es gab einen, mit dem er zumindest kurzzeitig die Leidenschaft fürs Zocken teilte. Aber das verliert sich wieder. Die Ersten, zu denen Till tatsächlich eine Freundschaft und Nähe aufbaut, sind Feli und Fina, zwei Mädchen, die sich unerlaubterweise im Raucherbereich der Schule rumtreiben. Sie sind es auch, die Till aus dem täglichen Schultrott unter des Dolinars Knute herausreißen.

Und da ist noch das Spiel Age of Empires, zu dessen TOP 10 Spielern Till bereits mit 15 Jahren gehört. In einer Art Parallelleben genießt er unter den Gamern etwas Ruhm und Prominenz. Sein sonstiges Leben wird davon quasi nicht berührt.

Achja, es gibt noch eine geschiedene Ehe und einen Vater, der im Verlauf der Geschichte stirbt und Till zum Halbwaisen werden lässt.

Ich muss ja zugeben, dass mich der Roman eher etwas ratlos zurückgelassen hat. Er ist gut und souverän erzählt, keine Frage. Die Erzählstimme aber ging mir ehrlicherweise spätestens nach einem Drittel des Buches doch auf die Nerven. Schon klar, dass es um das Abgehobene, die Attitüden, die Fassaden und das Alles geht. Da wird das Hohle, Phrasenhafte und Unechte beschrieben und kommentiert. Für meinen Geschmack nimmt die Erzählstimme aber die gleiche Attitüde ein wie die Protagonist:innen, die sie beschreibt. Und selbst wenn ich mir das Ganze im besten Wienerisch vorgetragen vorstelle, wird mir das dann schnell unsympathisch.

Es gibt ja genügend Beispiele für beteiligte, involvierte Erzählstimmen, die nicht versuchen als neutrale Instanz zu erzählen. Im Zweifelsfall, ist dann aber für die Leser:innen das Verhältnis der Erzählstimme zu den Figuren geklärt, weil sie Teil der Geschichte ist etc. In diesem Fall scheint die Stimme vom Caféhaus auf das Personal herabzuschauen und schon im Schmäh zu kommentieren und irgendwie auch zu lästern.

Nicht falsch verstehen, ich mag Lästern. Aber in einem Roman schätze ich es doch, wenn das Gefühl vorherrscht, dass den Figuren wenigstens von der:dem, die:der sie erschaffen hat, etwas Wohlwollen entgegengebracht wird – seien sie nun gut oder schlecht, stolpern sie verdient oder unverdient von Katastrophe zu Wendepunkt usw.

Erzählstimme und mein Eindruck, eigentlich nicht wirklich viel Tiefgehendes über die Figuren erfahren zu haben, lassen mich bei diesem Roman daran zweifeln. Vielleicht ist es ja als doppeltes Spiel gedacht, so a´la Fassade hinter der Fassade – literarisch überzeugt hat es mich leider nicht. Umso mehr, weil die Sprachregister, die hier gezogen werden, zeigen, dass das Schreibenkönnen nicht das Problem ist.

Deutlich unbefriedigt stelle ich diesen Roman also ins Regal. Dit war nix.

Kurz und gut: Irgendwie mehr Hui als dann tatsächlich drin ist. Kann man mal lesen!

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Sonntag, 26. Januar 2025

Irina Rastorgueva: Pop-Up-Propaganda. Epikrise der russischen Selbstvergiftung


“Propaganda hat das 20. Jahrhundert geprägt, noch jedes autoritäre Regime war bis zu seinem Ende auf sie angewiesen, und auch der moderne Westen ist vor ihr nicht gefeit. Wie Propaganda im Hier und Jetzt funktioniert, zeigt besonders deutlich Putins Russland: Ein planmäßiger Wahnsinn überzieht das Land. Irina Rastorgueva reicht uns den Schlüssel, um ihn zu dechiffrieren.” (Umschlagtext)

Seit einigen Jahren reiben wir sehr aufgeklärten Menschen im Westen uns verwundert die Augen und fragen uns, was denn mit unserer faktenbasierten Welt jenseits der Ideologien passiert sei. Fassungslos schauten wir nach Ungarn, nach Polen, in Richtung der USA und eben auch nach Russland. Mit #noafd und BSW traten selbst im eigenen Haus Kräfte auf den Plan, die sich populistischer Propaganda bedienen, wie wir sie sonst nur mit autoritären Regimes in Verbindung bringen – und sind erfolgreich.

Fake News und Co bestimmen nun schon etliche Jahre auch unsere Debatten. Aber nichts scheint diesem gesellschaftlichen Giftcocktail gewachsen zu sein. Eine redaktionelle Gesellschaft, wie sie zum Beispiel von #Correctiv gefordert wird, spricht sicher ganz viel Richtiges an.

Neben genauen und präzisen Analysen dessen, was autoritär gestimmte Propagandisten da genau veranstalten, wie es wirkt und was dagegen helfen könnte, lohnt sich ganz sicher auch ein kritischer Blick auf unsere eigenen Gesellschaften, deren Immunität sehr viel geringer auszufallen scheint, als wir uns bisher erfolgreich eingeredet haben.

Ich bin sehr gespannt, was sich aus diesem Blick auf Russland schließen lässt.

„Während innerhalb Russlands das Verbot kritischer Medien und die Gleichschaltung der verstaatlichten Sender eine geradezu karikaturhafte Erzählung über traditionelle Werte und die Notwendigkeit der ‚Militärischen Spezialoperation‘ hervorbringen, führen sorgfältig geplante Aktionen im Rest der Welt zur Destabilisierung demokratischer Gesellschaften. Putins Propagandamaschine erzeugt ein toxisches Amalgam religiöser, pseudowissenschaftlicher und nationalistischer Ideen, bedient sich der Esoterik und einer auf Wortneuschöpfungen basierenden Sprache – und zielt mit der Bildkultur der sozialen Medien nicht mehr nur auf den Intellekt, sondern rückhaltlos auf Emotionen und die niedersten Instinkte.

In unverwechselbarem Ton, so präzise wie ironisch, zeigt Irina Rastorgueva in einer Montage aus Zeitungsfundstücken und unabhängigen Berichten, aus der eigenen Erfahrung genauso wie aus der Analyse kremlkritischer und russlandtreuer Autoren und Medien das Wirken der russischen Propaganda als Mittel der Selbstvergiftung eines ganzen Landes.“ (Klappentext)

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Samstag, 25. Januar 2025

Hallgrímur Helgason: 60 Kilo Kinnhaken


„Zwischen den Bänden herrscht Dunkelheit. Eine rabenschwarze und saukalte isländische Dunkelheit. Doch keine ganz stille, denn Wind pfeift hindurch, Nordwind mit nassen Böen, sie prasseln auf die kleine arktische Ortschaft ein, die wir uns im ersten Band aufgebaut haben.“ (Seite 9)

Ich habe ja diesen Hype um Urlaubsreisen in skandinavische Länder schon nicht verstanden. Und Island ist, was das angeht, ja quasi die kahlere und noch trostlosere Ausgabe. Aber diese Lesereise mit Hallgrímur Helgason ist jede Seite wert.

Schon den ersten Band der Roman-Trilogie zu Islands Reise in die Moderne, 60 Kilo Sonnenschein, war sprachlich grandios. Tolle Geschichten rund um das Leben des jungen Gestur und die Menschen im fiktiven Segulfjördur kurz vor der Schwelle zur Moderne.

So viel kann ich unumwunden sagen: Der zweite Band hält in vollem Umfang, was der Erste versprach.

Die Geschichte folgt weiterhin dem nun langsam erwachsen werdenden Gestur und erzählt ganz nebenbei von den unglaublichen Umwälzungen, denen sich eine im Grunde noch fast im Mittelalter lebende Gesellschaft gegenübersieht.

Norweger und Dänen entdecken den Fjörd und die See davor als lukratives Fanggebiet für Hering und bauen in der kleinen Ortschaft Landungsstege und Verarbeitungsmöglichkeiten auf. Und plötzlich können die Menschen vor Ort für ihre Verhältnisse richtig Geld verdienen, Geld das zuvor noch gar keine große Relevanz in ihrem Leben spielte. Aus ihren Erdhäusern ziehen sie in gebaute, moderne Häuser, Straßen werden angelegt, die Frauen verdienen mit Akkordarbeit im Heringausnehmen ihr eigenes Geld.

Kein Wunder, dass auch Gestur angesichts dieser Möglichkeiten sein Leben in die eigenen Hände nehmen will und sich seine Zukunft erkämpfen. Während das zunächst noch eine ungeformte Idee ist, entdeckt Gestur inmitten eines Schneesturms die Liebe. Oder die Lust. Vielleicht auch beides. Schon steht er mitten in diesem Erwachsenenleben, und es dauert nicht lang, dass er sich nicht nur in der Rolle des Liebhabers, des Verliebten und eines Vaters wiederfindet.

Der Verkauf von Land, dass schon einmal unter einer Gerölllawine begraben wurde, soll ihm endlich den Wunsch nach einem richtigen Haus erfüllen. Doch auf dem Weg dahin, verteilt das Schicksal so einige Kinnhaken. Gestur stemmt sich dem entgegen und will seine Zukunft in keinem Fall kleiner denken. Das gilt spiegelbildlich ebenso für die inzwischen aufblühende Stadt, auch als der Hering plötzlich ausbleibt.

Interessant finde ich, dass in diesem Band die Erzählstimme immer stärker auch als Kommentator aus der Zukunft Islands auftritt, also unserer heutigen Gegenwart. Erzählerisch gelingen so immer wieder selbstironische Bemerkungen über die Entwicklungen, die die isländische Gesellschaft beim Hineintapsen und Stolpern in die Moderne so nimmt. Außerdem macht das mal so richtig Spaß zu lesen.

Kurz und gut: Epos mit Selbstironie und viel Humor. Lesen, unbedingt!

(Übersetzung: Karl-Ludwig Wetzig)

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Freitag, 17. Januar 2025

Ines Geipel: Umkämpfte Zone. Mein Bruder, der Osten und der Hass


„Es liegt Schnee, endlos viel und ständig kommt neuer dazu.“ (Seite 7)

Bei Dirk Oschmanns Buch über den Osten, den sich der Westen ausgedacht haben soll, war mein erster Gedanke, der Text sei eigentlich nur für „Wessis“ interessant. Dieses Buch von Ines Geipel sollten wir „Ossis“ lesen – und zwar alle. Diejenigen, die rückwirkend alles toll finden aber auch die, welche für ihren Bruch mit der DDR nicht die Wende brauchten.

Geipel erzählt anhand der Geschichte ihrer Familie eine etwas andere Geschichte der DDR, die mir zumindest in Erzählungen von Menschen im Osten so eher selten unterkommt. Wie typisch sie ist, das kann ich persönlich weder sagen noch einschätzen. Authentisch ist sie in jedem Fall, dass lässt sich aus ihren Worten herauslesen.

Der Vater der Familie Geipel arbeitet als Auslandsspion der DDR, während die Familie in ihrem scheinbar normalen Leben nichts davon weiß. Normal heißt in diesem Fall aber, dass eine unglaublich gewalttätige Strenge und Disziplin schon in jungen Jahren von den Kindern Ines und ihrem Bruder abverlangt werden. Inklusive einer unbedingten Treue zum System.

Mit 14 Jahren wurde sie auf ein Internat geschickt, eine Spezialschule für zukünftige Russischlehrer:innen. Mit 17 begann ihre sportliche Kariere im Sprint und im Weitsprung. Die junge Ines fand sich wieder in dem inzwischen oft besprochenen Doping- und Zwangssystem des DDR-Sports, aus dem sie 1985 erst wieder ausschied.

Als Studentin geriet sie, obwohl Mitglied der SED, mit dem System aneinander und floh im Sommer 1989 über Ungarn in den Westen, wo sie später Philosophie und Soziologie studierte.

Jede:r in der DDR Aufgewachsene kennt die dort hochgehaltene Traditionslinie, die von den kommunistischen Rebellen wider die SPD in den antifaschistischen Widerstand und direkt in die DDR führte. Ines Geipel erzählt anhand ihrer Familiengeschichte von einer anderen Traditionslinie, die ein gewaltvolles Miteinander bis hinein in die Familie, Disziplin bis zur Selbstverleugnung und Unterwerfung – geistig aber auch körperlich – beschreibt.

Es entsteht ein Bild, das wenig mit der aufgeklärten, antifaschistischen und sozialistischen Gesellschaft zu tun hat, die offiziell verkündet wurde. Geipel erzählt von einer schier unaushaltbaren Enge, von einem Zurechtbiegen junger Menschen und das weit jenseits kuscheliger DDR-Nostalgie.

Ja, in dieses so kleine Land passten ganz offenbar unzählige Realitäten. Ich las atemlos und erschüttert von der, über die Ines Geipel hier schreibt. Auch wenn als gut 15 Jahre später Geborener derlei zumindest oberflächlich in meinem Umfeld auf einem kleinen Dorf nicht wahrgenommen habe, fällt es mir nicht schwer, das alles für möglich zu halten.

In all den aktuellen Debatten darüber, was Ostdeutschland und die Ostdeutschen denn nun seien, reicht es nicht, ausschließlich immer wieder auf die erfahrenen Kränkungen in den Transformationsjahren hinzuweisen. Auch das Leben in der DDR in all seinen Facetten muss ausgeleuchtet werden und eine Rolle spielen. Genauso wie die historischen und politischen Bewertungen des Systems.

Sich dem zu stellen, mit allem, was daran auch schmerzt, ist in meinen Augen eine Grundvoraussetzung, um im Hier und Heute die Spielart des Kapitalismus, in der wir leben, und auch die autoritär-libertären Gelüste so vieler zu kritisieren. Ich zumindest bin mir sicher, von welcher politischen Seite das nicht zu erwarten ist.

Kurz und gut: Macht Aua; gut für uns „Ossis“. Lesen, unbedingt!

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Donnerstag, 16. Januar 2025

Leo Löwenthal: Falsche Propheten. Studien zur faschistischen Agitation


„Vor und während des Zweiten Weltkrieges waren Amerikaner erstaunt darüber, daß es in ihrer Mitte eine Reihe von Individuen gab, die den Naziführern der zwanziger Jahre in Deutschland verblüffend ähnelten.“ (Seite 9)

Kann sich noch jemand erinnern, wann es anfing, das Nachdenken in Kommentarspalten von Zeitungen und in wichtigen Publikationen, wie wir denn nun umgehen sollten mit den Populisten von rechts (#noafd) – und inzwischen auch von halbrechts (BSW)? Eine Menge Schlaues wurde da schon geäußert. Und es ist ja alles gar nicht so neu und überraschend.

Das zeigt sich in diesem Text, der ursprünglich 1949 veröffentlicht wurde und von einem der vielen schlauen Köpfe, den die Machtergreifung der Nazis zur Emigration zwang. Er gehörte zu den Akademiker:innen des Frankfurter Instituts für Sozialforschung und konnte seine Laufbahn und seine Forschungen später in den USA fortsetzen.

Mit dieser literatursoziologischen Studie zu faschistischen Agitatoren in den USA in der Kriegszeit liegt ein Text vor, der aktueller nicht sein könnte. Tatsächlich ist es erschütternd leicht, beim Lesen zu vergessen, dass er schon 75 Jahre alt ist. Denn vieles, was hier herausgearbeitet wird, kommt uns heute so wohlbekannt vor.

Für die Untersuchung wurden Originaltexte von aktiven Agitatoren der dreißiger und vierziger Jahre zugrunde gelegt, die eine klar faschistische Ausrichtung hatten. Und so wie diese sich offenbar deutlich an den nationalsozialistischen Agitatoren orientierten, erscheinen auch heutige Populisten von rechts und halbrechts wie untote Kopien dieser.

Ob es das Aufwiegeln und Spalten der Gesellschaft ist in die bösen Anderen und sich selbst, das Einfordern von Gefolgschaft und Vertrauen nur in das, was als die eigene Wahrheit ausgegeben wird, das Kennzeichnen politischer Gegner als Feinde des vermeintlichen Volkes sowie deren Pathologisierung und Entmenschlichung, das Propagieren einfachster Lösungen von komplexen Problemlagen, die Selbstviktimisierung und zugleich Heroisierung und und und.

Die Studie bietet keine Antworten darauf, wie sich dieses Phänomens Herr werden ließe. Aber klar wird sehr deutlich: wir können wissen, was da passiert und was diese Möchtegern-Autokraten veranstalten. Klar ist auch, das gleiche Lied etwas leiser zu singen, wie sich konservative und liberale Parteien seit Jahren anschicken, wird das Übel nicht eindämmen. Im Gegenteil. So wird normalisiert und der demokratiefeindliche Sound einfach nur alltäglich. Wohin das führt, haben die letzten Landtagswahlergebnisse eindrücklich vorgeführt.

Das ändert sicher nichts daran, immer wieder im gesellschaftlichen Diskurs klären zu müssen, was wir bereit sind an Meinungen zu ertragen und wo die Grundfesten unseres gesellschaftlichen Zusammenlebens ernsthaft bedroht sind. Das schließt die immer wiederkehrende Debatte darüber ein, wie sich eine demokratische Gesellschaft wehren sollte, ohne ihre eigenen Grundüberzeugungen dabei über Bord zu werfen.

Wie notwendig das immer wieder ist, lässt sich in diesem Buch eindrücklich erfahren.

Kurz und gut: Gruselig, wie aktuell dieser 75 Jahre alte Text ist. Lesen, unbedingt!

(Übersetzung: Susanne Hoppmann-Löwenthal)

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Freitag, 10. Januar 2025

Sebastian Barry: Jenseits aller Zeit


„Nach vierzig Jahren als Kriminalbeamter wird Tom Kettle in seinem neuen Zuhause angespült, einer kleinen Einliegerwohnung im Anbau einer viktorianischen Burg, mit Blick auf den Coliemore Harbour und die irische See. Sich nicht zu rühren, glücklich und nutzlos zu sein, ist für ihn Sinn und Zweck des Ruhestands. Doch an einem stürmischen Frühlingsnachmittag klopfen zwei ehemalige Kollegen an seine Tür, um ihn zu einem alten Mordfall zu befragen. Ein traumatischer Fall, der alte Wunden aufreißt, denn ‚nichts war so, wie behauptet wurde. Die Wahrheit eingeschlossen. Die Gardeí. Das Land.‘“ (Umschlagtext)

Es wird ja Zeit, dass ich auch mal wieder was von dem heißen, ganz aktuellen Zeug poste. Also los! 😊

Dass Barry und insbesondere die Romane über Thomas McNulty, John Cole und Winona es mir wirklich so richtig heftig angetan haben, hatte ich an dieser Stelle schon verschiedentlich erwähnt. Als guter Fanboy lautet meine Mission natürlich, auch die anderen Werke dieses Autors zu erkunden. Und da lag dann doch quasi druckfrisch dieser Band einfach so in der besten Buchhandlung von allen herum.

Nein nein, da führte also kein Weg vorbei. Und ich freue mich drauf, Barrys Sprache und Erzählen mal in einem zeitgenössischen Setting zu erleben.

Gerade weil die anderen Bände (siehe oben) durch eine raue und sehr spezifische Sprache funkelten, die aber so natürlich nur mit den konkreten Geschichten zu dieser Zeit funktionieren können, erwartet mich vermutlich ein für mich ganz neuer Barry-Sound. Spannend! 😉

„Tom Kettle ist ein unzuverlässiger Zeuge und ein unzuverlässiger Erzähler. Seine Welt ist ein Ort voller Trauer und leisem Humor. Hier verweilen die Geister seiner Frau und seiner Kinder, verschwimmen Pflicht und Gerechtigkeit, geht die Erinnerung ganz eigene, verschlungene Wege.“ (Verlagstext)

(Übersetzung: Hans-Christian Oeser)

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Donnerstag, 9. Januar 2025

Jin Yong: Die Legende der Adlerkrieger


„Kurz vor ihrem Tod schwören zwei Kung-Fu-Krieger einander ewige Bruderschaft. Ein Eid, der auch für ihre Kinder gelten soll. Doch ihre Söhne wachsen als Feinde auf. Als die beiden einander Jahre später schließlich begegnen, geht es um nichts Geringeres als das Schicksal des ganzen chinesischen Reiches …

Fliegende Krieger, kämpfende Mönche, ein liebenswerter Held und ein Abenteuer, das sich vom Herzen Chinas bis in die weite Steppe der Mongolei erstreckt – mit Die Legende der Adlerkrieger hat Jin Yong ein Stück Weltliteratur geschrieben.“ (Umschlagtext)

Der MM weiß halt, wie er mich überrascht. Ich meine, hatte jemand von euch diese Fantasy-Saga schon auf dem Schirm? Ich jedenfalls nicht.

Umso gespannter bin ich, weil „der chinesische Herr der Ringe“ ja schon mal ne Ansage ist. 😉

Klar, ließen sich schon sehr lange auch Bücher aus anderen Sprachen in den Regalen der Buchläden finden. Aber die Sprachen und Weltregionen, aus denen inzwischen Übersetzungen vorliegen, sind doch schon noch mal sehr viel mehr geworden und die Auswahl deutlich breiter.

Darum können wir die Übersetzungskultur hierzulande gar nicht hoch genug schätzen. Das muss auch mal zwischendurch erwähnt werden!

„Kurz bevor sie von den grausamen Soldaten des Jin-Reiches getötet werden, schließen die beiden Kung-Fu-Kämpfer Guo Xiaotian und Yang Tiexin einen Pakt: Für immer sollen ihre beiden noch ungeborenen Kinder einander in Treue verbunden sein. Während der Weg des Schicksals Yangs schwangere Frau an den Hof des Jin-Prinzen führt, verschlägt es Guos Frau in die weiten Steppen der Mongolei. Dort bringt sie ihren Sohn Guo Jing zur Welt, und die beiden finden Unterschlupf beim Clan des aufstrebenden Mongolenfürsten Dschingis Khan. Bald wird Guo Jing von den Sieben Sonderlingen des Südens, den besten Kung-Fu-Meistern Chinas, zum Kämpfer ausgebildet. Und kurz darauf findet sich der tapfere und gutherzige junge Krieger inmitten eines gewaltigen Abenteuers wieder, bei dem es um nichts Geringeres geht als das Schicksals Chinas selbst. Noch ahnt Guo Jing nicht, dass sein mächtigster Gegenspieler der von seinem verstorbenen Vater auserkorene Schwurbruder Yang Kang sein wird …

Die Legende der Adlerkrieger ist der Auftakt zu Jin Yongs großer Fantasy-Saga, die seit ihrem Erscheinen Generationen von Leserinnen und Lesern in ganz Asien begeistert hat und inzwischen zu den großen Klassikern der modernen chinesischen Literatur zählt.“ (Klappentext)

(Übersetzung: Karin Betz)

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Dienstag, 7. Januar 2025

Cormac McCarthy: Ein Kind Gottes


„Sie kamen in der Morgensonne wie eine Karawane von Schaustellern durch die mit Bartgras bewachsenen Senken und über den Hügel, der Lkw schaukelte und schlingerte in den Furchen, die Musiker, die auf den Stühlen auf der Ladefläche saßen, schwankten, während sie ihre Instrumente stimmten, der fette Gitarrist gestikulierte grinsend in Richtung anderer in einem Wagen dahinter, beugte sich vor, um dem Fiddler einen Ton anzugeben, und dieser drehte lauschend und mit gerunzelter Stirn an einem Wirbel.“ (Seite 7)

Ok, dieses Buch ist definitiv nichts für kuschelige Weihnachtsfeiertage oder eine leichte Weißweinlaune unterm Sonnenschirm am Strand. Ich glaube, sehr starker Kaffee oder etwas Gebranntes passen da besser und ein Halblicht, das noch nicht zu viele Schatten wirft, aber schon etwas leicht Dramatisches in sich hat.

Karg ist das Leben von Lester Ballard in Tennessee in den 60ern des letzten Jahrhunderts. Wie so oft bei McCarthy ist alles irgendwie in eine triste Wildwest-Romantik getaucht, nur ohne Romantik. Denn das ist so ziemlich das Letzte, was einem bei Lester Ballard einfallen würde.

Es ist schon wieder eine Weile her, dass ich den Roman gelesen habe. Im Kopf geblieben ist mir eine zottelige, abgerissene und wirklich zutiefst bemitleidenswerte Nicht-Figur. Aber selbst das Mitleid löst sich auf wie der Morgendunst wenn eine trübe Sonne über dem tristen Land aufgeht und ihren Blick auf diese Existenz am Rand wirft.

Es braucht gar nicht viel zu wissen über Lester Ballard, denn McCarthy beschreibt einfach und zugleich poetisch den Abstieg dessen, der eigentlich schon unten angekommen zu sein scheint. Haft, Psychiatrie – wie viel tiefer kann es noch gehen?

Lester Ballard zieht sich buchstäblich unter die Erde zurück, wo er alles Menschliche gänzlich zu verlieren scheint, die Opfer seiner Serienmorde ansammelt, ein Dasein führt, für das es in der Welt, der er so weit entrückt ist, schlicht keine Worte mehr gibt.

Besonders ist mal wieder die Sprache McCarthys, die ohne sprachlichen Zierrat auskommt und das Grauen umso besser trifft. Hier geht es ihm aber eben nicht um den Effekt, der Grusel der Zuschauer, auf den billige Horrorfilme abzielen würden. McCarthy lässt die Frage, wo das, was uns als menschlich auszeichnet, anfängt oder vielmehr aufhört. Einsamkeit, purer Instinkt und Trieb, gerade mal der Wille irgendwie zu überleben?

Das Mitleid verfliegt, schrieb ich oben. Und tatsächlich zeichnet McCarthy mit Lester Ballard eine Figur, die, als von der Gesellschaft Ausgestoßener, in einer endlosen Abwärtsspirale gefangen ist. Das schreit doch nach Mitleid. Aber nein, wenn die letzte Seite gelesen ist, folgt eher ein Aufatmen, dass dieses Phantom ein Ende hat. Auf dem Weg dahin ist es schier unerträglich.

Damit hebt McCarthy umso mehr hervor, wie unaufhaltsam diese Spirale geraten kann – für einen Ausgestoßenen wie für diejenigen, die ihn einfach nur noch weghaben wollen, wie menschliches Ungeziefer.

Der Roman buchstabiert die gesellschaftliche Ebene nicht aus, muss er aber auch gar nicht. Auch wenn am Ende immer noch kein echtes Mitleid mit Lester Ballard steht, machte sich bei mir zumindest eine Beklommenheit breit, die mich noch eine Weile beschäftigt hat.

Kurz und gut: Das ist düster. Lesen!

(Übersetzung: Nikolaus Stingl)

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Sonntag, 5. Januar 2025

Carolin Amlinger/ Oliver Nachtwey: Gekränkte Freiheit. Aspekte des libertären Autoritarismus


„Die alte Schulfreundin, der Kollege, das Familienmitglied, die neuerdings davon raunen, dass sie ihre Freiheit bedroht sehen – die meisten von uns können wohl von solchen Begegnungen berichten.“ (Seite 9)

Vor gerade mal zwei Jahren, 2022 nämlich, erschien diese Studie vor dem Eindruck der zunehmend lauter und medial wirkmächtiger werdenden und sich festigenden Szene der Corona-Leugner:innen/-Kritiker:innen. Dieser ursprüngliche Anlass nimmt dem Band leider nichts an seiner Aktualität.

Das hier untersuchte Phänomen von Menschen, die sich ultra-libertär gebärden, ihre Freiheit vollumfänglich bedroht sehen, überall diktatorische Entwicklungen am Werk sehen und sich stets und ständig bedroht und unterdrückt wähnen, findet sich heute nicht weniger stark ausgeprägt. Ganz im Gegenteil findet diese Haltung in mindestens der #noafd aber letztlich auch im BSW parteipolitische Vertretungen, die bereit sind, sie in die politische Arena, in die Parlamente zu tragen.

Es erscheint mir zumindest geradezu grotesk, dass die Anlässe für die Behauptung einer Meinungsdiktatur dicht gestaffelt und durch ihre Häufung inzwischen nahezu bedeutungslos geworden sind. Waren es zunächst die Zumutungen, die uns alle unter dem Eindruck der Coronapandemie ereilten, Maskenpflicht, eingeschränkte Bewegungsfreiheit etc., reichten kurz darauf behauptete Meinungsverbote, die lautstark öffentlich beklagt wurden, und selbst ein geplantes Gesetzesvorhaben zu Heizungen, das zum Zeitpunkt der Debatte noch nicht mehr als ein internes Papier weit vor dem Stadium eines Gesetzesentwurfes war.

Kurz, die Haltung des libertären Autoritarismus ist nunmehr ein gefestigtes Phänomen, dass leider alles andere als randständig ist, sondern vielmehr die Mitte der Gesellschaft erreicht zu haben scheint. Dies wenigstens lassen die letzten Landtagswahlergebnisse in Ostdeutschland vermuten, wenn man die Zahlen für #noafd und BSW zusammenrechnet.

Beide vereint, dass sie wie die Corona-Leugner:innenszene zuvor ihre je individuelle Freiheit derartig überbetonen und in den Mittelpunkt rücken, dass jedes gesellschaftliche Ansinnen, das uns alle betreffen müsste, sofort als Angriff auf dieselbe angesehen wird. Die hier eingeforderte Freiheit beinhaltet kaum mehr einen gesellschaftlichen Zusammenhalt, der Einzelnen womöglich Beschränkungen auferlegt, um gesellschaftlich wirksam werden zu können.

Ob menschengemachter Klimawandel, Migration, gendergerechte Sprache – alles stellt eine Einschränkung der eigenen Freiheit dar, egal ob es diese Einschränkungen in Form von gesetzlichen Regelungen überhaupt gibt oder nicht. So passieren so absurde Dinge wie, dass gesetzliche Regelungen auf den Weg gebracht werden, die das Gendern untersagen, wo es zuvor keinerlei Regelungen gab, die das Gegenteil versucht hätten. Alles im Namen der Freiheit.

Außerdem bietet die hier untersuchte Haltung die Möglichkeit, sich selbst jederzeit als gekränkt, unterdrückt und eingeschränkt zu empfinden. So wird jede noch so banale und selbstverständlich mögliche Meinungsäußerung zum Widerstand stilisiert – und wer das anders sieht, wird zum Feind.

Die bevorstehenden Neuwahlen zum Bundestag und der nunmehr deswegen angelaufene Wahlkampf lassen leider befürchten, das von den größten Kritiker:innen der Westbindung Deutschlands und Europas eine weitere Amerikanisierung der hiesigen Verhältnisse befeuert wird. Und sie beklatschen das, wie sich an dem Jubel über die Einmischungen von Elon Musk in die deutsche Politik beobachten lässt.

Wie so oft, hab ich nun etwas weiter ausgeholt, glaube aber, dass der Band von Amlinger und Nachtwey vor diesem Hintergrund alles andere als überholt ist. Die Lektüre erfordert schon einige Konzentration. Das ist kein politischer Kommentar, der sich mal nebenher zwischen Abendbrot und Tatort lesen lässt. Aber die Mühe lohnt, weil viel Wiedererkennen und Erhellendes garantiert sind.

Kurz und gut: Eigentlich gruselige aber eben wichtige Erkenntnisse. Lesen, unbedingt!

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Freitag, 3. Januar 2025

Fernanda Melchor: Paradais

 

„Der Dicke war an allem schuld, das würde er ihnen sagen.“ (Seite 9)

Schon der erste literarische Faustschlag mit „Saison der Wirbelstürme“ hat gesessen. Mit dem 2021 erschienenen neuen Band holt Fernanda Melchor erneut aus: knapp, präzise und treffsicher.

Am Pool einer luxuriösen Wohnanlage mit dem ambitionierten Namen Paradise lungert ein zu dicker, junger blonder Mann herum. Die Zeit schlägt er mit zu viel Alkohol tot. Gesellschaft hat er dabei immer wieder durch den gerade mal sechzehnjährigen Gärtner Polo.

So richtig paradiesisch fühlt sich der dicke Taugenichts nicht und fantasiert in einer Tour davon, dass die schöne Nachbarin unheimlich scharf auf ihn sei. Das malt Franco sich in den schillerndsten Farben aus und lädt Polo immer wieder zum gemeinsamen Besäufnis ein.

Der Gärtner kann nur davon träumen, in so einer Umgebung zu wohnen und hat einfach auch nichts Besseres zu tun, also setzt er sich eins ums andere Mal zu Franco und lässt sich mit Bier dafür entschädigen, dass er dessen Tiraden erträgt und aushält.

In diesen Selbstgesprächen Francos wird aus der schönen aber in der Realität unerreichbaren Nachbarin erst die begehrte Frau und Stück für Stück aus dieser ein Flittchen, eine Schlampe. Franco fabuliert sich immer mehr in Rage, sein Frust darüber, sein Leben nicht auf die Ketten zu bekommen und unsichtbar für die schöne Frau von nebenan zu sein wächst und gedeiht und wird sich mit aller schrecklichen Gewalt Bahn brechen.

Melchor schreibt vor dem Hintergrund einer misogynen Kultur in ihrem Heimatland Mexiko. Die Berichte über Femizide schaffen es seit einigen Jahren mit unschöner Regelmäßigkeit auch in die Berichterstattung hierzulande. Und das sind keine Berichte von exotischen Sandstränden und Mojitos im Sonnenuntergang.

Mit rauem Stil entfaltet Melchor hier, wie aus bierseligem Gefasel, viel Frust und vor dem Hintergrund einer frauenfeindlichen Kultur eine Frau immer mehr zum Objekt zunächst der Begierde und dann des unbändigen Hasses wird. Der Alkohol ist hier im Grunde nur der Brandbeschleuniger für eine Glut, die im männlichen Selbstverständnis schon angelegt scheint. Dies gilt zumindest für Franco, den man sich eigentlich wie den Prototypen eines Incels vorstellen kann.

Mit Polo stellt Melchor dem durch Frust und Alkohol enthemmten Franco zwar einen Mitläufer an die Seite, der aber als jüngerer und noch mit Skrupeln behafteter junger Mann auch die Möglichkeit eröffnet, dass Männer sich anders entscheiden können. Für Franco ist jede Hoffnung verloren – ebenso wie für seine letztlich wahllos ausgesuchten Opfer.

Dass die Erzählung des Verbrechens bei dem Blickwinkel der Männer bleibt und unbarmherzig draufhält, wird durch den schon erwähnten rauen und schnörkellosen Tonfall der Geschichte schon fast unerträglich zu lesen. Für diese Schonungslosigkeit ist Fernanda Melchor einmal mehr zu danken.

Kurz und gut: Ein präziser literarischer Faustschlag, genau dahin, wo es weh tut. Lesen, unbedingt!

(Übersetzung: Angelica Ammar)

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