Dienstag, 24. Juli 2018

Antonio Ruiz-Camacho: Denn sie sterben jung



„Es ist das Jahr, in dem alle den Sommer in Italien verbringen wollen.“ (Seite 13)

Zumindest gilt das für den Freundeskreis von Fernanda. Sie ist eine der Enkelinnen von José Victoriano Arteaga, dem Patriarchen einer weit verzweigten und sehr wohlhabenden Familie in Mexico-Stadt. Gemeinsam mit ihren Freundinnen bereitet sich Fernanda mit einem Sprachkurs auf den geplanten Sommeraufenthalt in Italien vor. Sie gehören zu der Schicht, die sich solche Reisen leisten kann, und die in den besseren Vierteln der Hauptstadt leben. Fernab von Armut, Gewalt und Kriminalität. All das kennen sie nur aus den Geschichten anderer.

In Fernandas Leben und in das Leben ihrer Familie ist alles wohlgeordnet, bis der Patriarch eines Tages nicht mehr nach Hause kommt. Zunächst bleibt die Hoffnung, dass der virile Witwer einfach nur auf einer ausgedehnten Vergnügungstour weilt – aber nach und nach verflüchtigt sich die Hoffnung. Zu viele Geschichten über gewaltsame Entführungen und deren blutiges Ende kursieren in der Stadt. Das Eintreffen von Paketen mit grausigem Inhalt beendet endgültig jede Spekulation.

Die Familienmitglieder fliehen aus der Stadt aus Angst vor weiteren Gewalttaten und Erpressung. Die einen verschlägt es in die USA, andere nach Spanien. Die wohlhabende Familie zerfällt und ihre Mitglieder finden sich als Flüchtlinge und Außenseiter in fremder Umgebung wieder. Jede und jeder für sich und auf sich allein gestellt.

In acht kurzen Stories zeichnet Ruiz-Camacho den Zerfall dieser Familie nach. Das Schicksal des Patriarchen bleibt dabei nur der Auslöser. Im Mittelpunkt stehen die Lebenswege, Entscheidungen und Auseinandersetzungen der nun als Expats lebenden Familienmitglieder. Einzig ein Sohn bleibt zurück, um die Sicherung und den Verkauf des Besitzes zu regeln. Die Familie, die es offenbar gewohnt war, dass sich die Welt um sie dreht, dass sie die Umstände ihres Lebens bestimmen und notfalls kaufen können – sie muss nun erleben, wie ihnen das eigene Schicksal zusehends aus den Händen gleitet.

Am eindrücklichsten fand ich die Geschichte der Geliebten des Patriarchen, von der niemand in der Familie wusste und auch nicht, dass es einen weiteren Enkel gibt. Silvia, gewöhnt daran, dass der Vater ihres Kindes kommt und geht, wie er mag, glaubt zuerst, dass der Patriarch die Affäre mit ihr beendet habe. Erst als sie bei der Familie nachfragt, erfährt die von dem weiteren Enkel. Das einzige, was sie allerdings zu beschäftigen scheint, ist die Frage, wie groß die Gefahr ist, dass dieser Enkel als weiteres Druckmittel entdeckt werden könnte. Silvia geht es aber nicht um Geld, sie steht auf eigenen Beinen. Sie scheint fast die einzige zu sein, die den Verlust eines geliebten Menschen betrauert, ohne sich zugleich dabei im Grunde nur um sich selbst zu drehen. Sie war für mich die mit Abstand sympathischste Figur des Buches.

Auch wenn die Figuren reichlich schnöselig daherkommen, ist Antonio Ruiz-Camacho ein interessantes Familienpanorama gelungen. Unsympathisch oder nicht, die Charaktere in ihren Facetten sind gelungen und lassen einen tiefen Blick in ihre Gefühlswelten zu. Ein gelungenes Debüt.

Danke, C.H. Beck Verlag, für dieses Rezensionsexemplar.

Kurz und gut: Der Band taugt bestens für eine etwas abgründigere Urlaubslektüre. Ich wäre neugierig, etwas Längeres von dem Autor zu lesen.

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