„Es ist das Jahr, in dem alle den Sommer in Italien verbringen
wollen.“ (Seite 13)
Zumindest gilt das für den Freundeskreis von Fernanda. Sie ist
eine der Enkelinnen von José Victoriano Arteaga, dem Patriarchen einer weit
verzweigten und sehr wohlhabenden Familie in Mexico-Stadt. Gemeinsam mit ihren
Freundinnen bereitet sich Fernanda mit einem Sprachkurs auf den geplanten
Sommeraufenthalt in Italien vor. Sie gehören zu der Schicht, die sich solche
Reisen leisten kann, und die in den besseren Vierteln der Hauptstadt leben.
Fernab von Armut, Gewalt und Kriminalität. All das kennen sie nur aus den
Geschichten anderer.
In Fernandas Leben und in das Leben ihrer Familie ist alles
wohlgeordnet, bis der Patriarch eines Tages nicht mehr nach Hause kommt.
Zunächst bleibt die Hoffnung, dass der virile Witwer einfach nur auf einer
ausgedehnten Vergnügungstour weilt – aber nach und nach verflüchtigt sich die
Hoffnung. Zu viele Geschichten über gewaltsame Entführungen und deren blutiges
Ende kursieren in der Stadt. Das Eintreffen von Paketen mit grausigem Inhalt
beendet endgültig jede Spekulation.
Die Familienmitglieder fliehen aus der Stadt aus Angst vor
weiteren Gewalttaten und Erpressung. Die einen verschlägt es in die USA, andere
nach Spanien. Die wohlhabende Familie zerfällt und ihre Mitglieder finden sich
als Flüchtlinge und Außenseiter in fremder Umgebung wieder. Jede und jeder für
sich und auf sich allein gestellt.
In acht kurzen Stories zeichnet Ruiz-Camacho den Zerfall dieser
Familie nach. Das Schicksal des Patriarchen bleibt dabei nur der Auslöser. Im
Mittelpunkt stehen die Lebenswege, Entscheidungen und Auseinandersetzungen der
nun als Expats lebenden Familienmitglieder. Einzig ein Sohn bleibt zurück, um
die Sicherung und den Verkauf des Besitzes zu regeln. Die Familie, die es
offenbar gewohnt war, dass sich die Welt um sie dreht, dass sie die Umstände
ihres Lebens bestimmen und notfalls kaufen können – sie muss nun erleben, wie
ihnen das eigene Schicksal zusehends aus den Händen gleitet.
Am eindrücklichsten fand ich die Geschichte der Geliebten des
Patriarchen, von der niemand in der Familie wusste und auch nicht, dass es
einen weiteren Enkel gibt. Silvia, gewöhnt daran, dass der Vater ihres Kindes
kommt und geht, wie er mag, glaubt zuerst, dass der Patriarch die Affäre mit
ihr beendet habe. Erst als sie bei der Familie nachfragt, erfährt die von dem
weiteren Enkel. Das einzige, was sie allerdings zu beschäftigen scheint, ist
die Frage, wie groß die Gefahr ist, dass dieser Enkel als weiteres Druckmittel
entdeckt werden könnte. Silvia geht es aber nicht um Geld, sie steht auf
eigenen Beinen. Sie scheint fast die einzige zu sein, die den Verlust eines
geliebten Menschen betrauert, ohne sich zugleich dabei im Grunde nur um sich
selbst zu drehen. Sie war für mich die mit Abstand sympathischste Figur des
Buches.
Auch wenn die Figuren reichlich schnöselig daherkommen, ist
Antonio Ruiz-Camacho ein interessantes Familienpanorama gelungen. Unsympathisch
oder nicht, die Charaktere in ihren Facetten sind gelungen und lassen einen
tiefen Blick in ihre Gefühlswelten zu. Ein gelungenes Debüt.
Danke, C.H. Beck Verlag, für dieses Rezensionsexemplar.
Kurz und gut: Der Band taugt bestens für eine etwas abgründigere
Urlaubslektüre. Ich wäre neugierig, etwas Längeres von dem Autor zu lesen.
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