„Seit er aufgebrochen war, befand sich Ed in einem Zustand
übertriebener Wachsamkeit, der es ihm verboten hatte, im Zug zu schlafen.“
(Seite 9)
Ed heißt eigentlich Edgar Bendler. Nach einem tragischen Verlust
flüchtet er irgendwie vor dem Leben nach Hiddensee. Es ist Sommer, und am Ende
dieses Jahres wird nur noch wenig so sein, wie es vorher war. Hiddensee wird es
immer noch geben aber nicht mehr das Land, zu dem die Insel gehörte.
Ich weiß nicht, wie es anderen Ossis geht, aber bei Büchern über
die DDR, oder bei denen, deren Handlung in ihr spielt, halte ich beständig
Ausschau nach dem Land, in dem ich selbst geboren wurde, nach Details,
Erinnerungen, nach Momenten des Wiedererkennens, vielleicht auch nach
Antworten, die nicht allein in persönlichen Geschichten stecken.
Details wie bestimmte Produkte und deren Bezeichnung oder Ähnliches
einmal außen vor gelassen, erstaunt es mich immer wieder, wie viele
verschiedene Erinnerungen und Lebenswege und Lebensorte in dieses kleine Land
gepasst haben. Gleichaltrige aus der Kreisstadt, in deren Einzugsbereich das
Dorf liegt, in dem ich selbst aufgewachsen bin, scheinen schon in einem völlig
anderen Land gelebt zu haben. Dieses Gefühl beschlich mich ebenfalls schon bei
anderen Büchern über diese kleine DDR.
Nun als „Kruso“ von Lutz Seiler. Und auch dieser Roman macht keine
Ausnahme. So viele Details klingen vertraut, familiär. Trotzdem entdeckte ich
in dieser märchenhaft versponnenen Geschichte einmal mehr eine DDR, die ich
vorher nicht kannte. Ich war aber auch noch nie auf Hiddensee. ;)
Ed reist also nach Hiddensee, eigentlich ohne Ziel und gänzlich
ohne jeden Plan. Mit dem ersten Schritt stolpert er in ein irgendwie
verwunschenes, abgelegenes Traumland. Auf eigentlich nicht erklärbarem Weg
strandet er in dem mythisch anmutenden „Klausner“ und wird dort Aushilfe in der
Küche. Zugleich wird er damit langsam zum Teil einer schweigend verschworenen
Gemeinschaft von Außenseitern, seltsamen Gestalten, die sich allesamt als
Saisonarbeiter auf der Insel eingefunden haben.
Sie alle bilden ein Netzwerk, das all die Sehnsuchtssucher
aufnimmt, die es auf die Insel zieht, um dem Sprung in die Ostsee und damit der
ersehnten Freiheit wenigstens nahe zu sein. Wie trostlos aussichtslos das
Vorhaben war, das Land auf diesem Weg zu verlassen, zeigt der Epilog. Der
handelt davon, was mit den ungezählten und zumeist nicht mehr identifizierbaren
Überresten geschah, die die dänischen Küste dann doch noch erreichten.
Von all dem, ahnt Ed aber zunächst nichts und ist ohnehin
vorwiegend mit sich selbst beschäftigt. Erst der harte Arbeitstrott im
„Klausner“ lässt ihn wieder so etwas wie Halt finden. Und da ist auch Kruso,
der neben ihm am Abwasch steht, und Ed unter seine Fittiche nimmt. Kruso weiht
ihn nach und nach ein in die Gepflogenheiten der Insel, der Saisonarbeiter und
des Netzwerkes, das er, Kruso, meisterlich dirigiert. Es dient nur dem Zweck,
die Gestrandeten, Suchenden aufzunehmen, ihnen Schlafplätze und Essen zu
gewähren, bis sie tatsächlich den Sprung wagen oder aber die Insel wieder
zurück in ihr altes Leben verlassen. Kruso organisiert, überzeugt und knüpft
alle Fäden. Fast wundert es, dass dies alles unter den behördlichen Augen
geschieht, die argwöhnisch auf dieses Eiland schauen.
Die Gestrandeten, die Soldaten, die wenigen Staatsbediensteten
sind noch das sichtbarste Zeichen dafür, dass diese Insel tatsächlich einem
Staat zugehörig ist. Das Festland muss unglaublich weit entfernt sein, so weit,
dass die Umwälzungen und dramatischen Entwicklungen in diesem Staat gerade als
Radiorauschen die Insel erreichen. Erst der Mauerfall lässt auch auf Hiddensee
alles ins Wanken geraten.
Von der eingeschworenen Gemeinschaft bleibt gerade mal Ed übrig;
und auch für die zuvor Gestrandeten öffnen sich nunmehr bequemere Wege. Ed
erlebt eine nahezu verlassene Insel, auf der selbst der Inselarzt alles
zurückließ. Gerade noch ein zynischer Vertreter der runtergekommenen
Staatsmacht hat noch nicht den Absprung geschafft. Ed verlässt die Insel
schließlich ebenso wieder, aber mit dem Versprechen, den Verbleib wenigstens
von Krusos Schwester aufzuklären, die vermutlich zu den in der Ostsee
Verschollenen gehört. Über diese Suche, die Ed sehr viel später nach Dänemark
führen wird, berichtet der schon erwähnte Epilog.
Puh, leicht hat es mir Lutz Seiler mit seinem Roman nicht gemacht.
Gerade die poetischen Beschreibungen dieser entrückten und entrückenden
Atmosphäre der Insel verlangten mir beim Lesen doch einiges an
Durchhaltevermögen ab. Immer wieder musste ich das Buch Beiseite legen und
feststellen, dass der Roman wie die Insel, die er beschreibt, nicht einfach
jedem jederzeit so einfach Zugang gewährt.
Das irgendwie Versponnene, das vom Hochhalten der eigenen
Geschichte lebt und mir nichts, dir nichts einfach so zusammenzubrechen scheint
– wie diese immer wieder beschworene besondere DDR-Gemeinschaft ja eben auch –
das beschreibt Seiler verstiegen, versteckt und doch zugleich drastisch. Es ist
kein Roman, der mir Jubelschreie entlocken konnte. Zugleich spüre ich aber
immer noch Vieles nachhallen. Vielleicht ist ein Verdienst des Buches, eben
keine abschließenden Antworten und Einsichten mundgerecht zu präsentieren.
Kurz und gut: Eher etwas für lange Herbst- und Winterabende und
weniger für eine kurzweilige Urlaubslektüre geeignet. Wer sich darauf einlassen
mag, wird Perlen entdecken können.
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