Montag, 30. Juli 2018

Lutz Seiler: Kruso



„Seit er aufgebrochen war, befand sich Ed in einem Zustand übertriebener Wachsamkeit, der es ihm verboten hatte, im Zug zu schlafen.“ (Seite 9)

Ed heißt eigentlich Edgar Bendler. Nach einem tragischen Verlust flüchtet er irgendwie vor dem Leben nach Hiddensee. Es ist Sommer, und am Ende dieses Jahres wird nur noch wenig so sein, wie es vorher war. Hiddensee wird es immer noch geben aber nicht mehr das Land, zu dem die Insel gehörte.

Ich weiß nicht, wie es anderen Ossis geht, aber bei Büchern über die DDR, oder bei denen, deren Handlung in ihr spielt, halte ich beständig Ausschau nach dem Land, in dem ich selbst geboren wurde, nach Details, Erinnerungen, nach Momenten des Wiedererkennens, vielleicht auch nach Antworten, die nicht allein in persönlichen Geschichten stecken.

Details wie bestimmte Produkte und deren Bezeichnung oder Ähnliches einmal außen vor gelassen, erstaunt es mich immer wieder, wie viele verschiedene Erinnerungen und Lebenswege und Lebensorte in dieses kleine Land gepasst haben. Gleichaltrige aus der Kreisstadt, in deren Einzugsbereich das Dorf liegt, in dem ich selbst aufgewachsen bin, scheinen schon in einem völlig anderen Land gelebt zu haben. Dieses Gefühl beschlich mich ebenfalls schon bei anderen Büchern über diese kleine DDR.

Nun als „Kruso“ von Lutz Seiler. Und auch dieser Roman macht keine Ausnahme. So viele Details klingen vertraut, familiär. Trotzdem entdeckte ich in dieser märchenhaft versponnenen Geschichte einmal mehr eine DDR, die ich vorher nicht kannte. Ich war aber auch noch nie auf Hiddensee. ;)

Ed reist also nach Hiddensee, eigentlich ohne Ziel und gänzlich ohne jeden Plan. Mit dem ersten Schritt stolpert er in ein irgendwie verwunschenes, abgelegenes Traumland. Auf eigentlich nicht erklärbarem Weg strandet er in dem mythisch anmutenden „Klausner“ und wird dort Aushilfe in der Küche. Zugleich wird er damit langsam zum Teil einer schweigend verschworenen Gemeinschaft von Außenseitern, seltsamen Gestalten, die sich allesamt als Saisonarbeiter auf der Insel eingefunden haben.

Sie alle bilden ein Netzwerk, das all die Sehnsuchtssucher aufnimmt, die es auf die Insel zieht, um dem Sprung in die Ostsee und damit der ersehnten Freiheit wenigstens nahe zu sein. Wie trostlos aussichtslos das Vorhaben war, das Land auf diesem Weg zu verlassen, zeigt der Epilog. Der handelt davon, was mit den ungezählten und zumeist nicht mehr identifizierbaren Überresten geschah, die die dänischen Küste dann doch noch erreichten.

Von all dem, ahnt Ed aber zunächst nichts und ist ohnehin vorwiegend mit sich selbst beschäftigt. Erst der harte Arbeitstrott im „Klausner“ lässt ihn wieder so etwas wie Halt finden. Und da ist auch Kruso, der neben ihm am Abwasch steht, und Ed unter seine Fittiche nimmt. Kruso weiht ihn nach und nach ein in die Gepflogenheiten der Insel, der Saisonarbeiter und des Netzwerkes, das er, Kruso, meisterlich dirigiert. Es dient nur dem Zweck, die Gestrandeten, Suchenden aufzunehmen, ihnen Schlafplätze und Essen zu gewähren, bis sie tatsächlich den Sprung wagen oder aber die Insel wieder zurück in ihr altes Leben verlassen. Kruso organisiert, überzeugt und knüpft alle Fäden. Fast wundert es, dass dies alles unter den behördlichen Augen geschieht, die argwöhnisch auf dieses Eiland schauen.

Die Gestrandeten, die Soldaten, die wenigen Staatsbediensteten sind noch das sichtbarste Zeichen dafür, dass diese Insel tatsächlich einem Staat zugehörig ist. Das Festland muss unglaublich weit entfernt sein, so weit, dass die Umwälzungen und dramatischen Entwicklungen in diesem Staat gerade als Radiorauschen die Insel erreichen. Erst der Mauerfall lässt auch auf Hiddensee alles ins Wanken geraten.

Von der eingeschworenen Gemeinschaft bleibt gerade mal Ed übrig; und auch für die zuvor Gestrandeten öffnen sich nunmehr bequemere Wege. Ed erlebt eine nahezu verlassene Insel, auf der selbst der Inselarzt alles zurückließ. Gerade noch ein zynischer Vertreter der runtergekommenen Staatsmacht hat noch nicht den Absprung geschafft. Ed verlässt die Insel schließlich ebenso wieder, aber mit dem Versprechen, den Verbleib wenigstens von Krusos Schwester aufzuklären, die vermutlich zu den in der Ostsee Verschollenen gehört. Über diese Suche, die Ed sehr viel später nach Dänemark führen wird, berichtet der schon erwähnte Epilog.

Puh, leicht hat es mir Lutz Seiler mit seinem Roman nicht gemacht. Gerade die poetischen Beschreibungen dieser entrückten und entrückenden Atmosphäre der Insel verlangten mir beim Lesen doch einiges an Durchhaltevermögen ab. Immer wieder musste ich das Buch Beiseite legen und feststellen, dass der Roman wie die Insel, die er beschreibt, nicht einfach jedem jederzeit so einfach Zugang gewährt.

Das irgendwie Versponnene, das vom Hochhalten der eigenen Geschichte lebt und mir nichts, dir nichts einfach so zusammenzubrechen scheint – wie diese immer wieder beschworene besondere DDR-Gemeinschaft ja eben auch – das beschreibt Seiler verstiegen, versteckt und doch zugleich drastisch. Es ist kein Roman, der mir Jubelschreie entlocken konnte. Zugleich spüre ich aber immer noch Vieles nachhallen. Vielleicht ist ein Verdienst des Buches, eben keine abschließenden Antworten und Einsichten mundgerecht zu präsentieren.

Kurz und gut: Eher etwas für lange Herbst- und Winterabende und weniger für eine kurzweilige Urlaubslektüre geeignet. Wer sich darauf einlassen mag, wird Perlen entdecken können.

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