„Safranowka,
ITL 47, genannt Artek II, war ein Nebenlager im Archangelsker Gebiet,
hundertfünfzig Kilometer östlich von Kotlas, an der Bahntrasse nach Workuta
gelegen.“ (Seite 7)
Die letzten
Romane, die mich in die Sowjetunion unter Stalin führten, waren von Christoph
Hein „Trutz“ und „Metropol“ von Eugen Ruge. Tatsächlich kam und kommt mir auch
dieses Thema immer wieder unter. Und es ist ja kein Wunder, dass diese
zahllosen Geschichten von Menschen, die ins Räderwerk des Stalinismus gerieten,
ob als glühende Kommunist:innen oder als einfache Menschen, die nur leben
wollten, noch immer nicht auserzählt sind.
Nun also
dieses Mammutwerk von Steffen Mensching – bei dem ich jede einzelne Seite
großartig fand.
Rafael
Schermann, den es tatsächlich gab, lebte als gefeierter Graphologe in der
Zwischenkriegszeit und kannte sie offenbar alle, die großen Namen aus Kunst,
Kultur und Wissenschaft. Er tritt in die Geschichte dieses Romans ein als
todkranker, alter, ausgemergelter Gefangener, bei dem nicht klar ist, wieso es
ihn eigentlich in dieses unmenschliche und wahnwitzige Räderwerk des
Lagersystems in der stalinistischen Sowjetunion verschlagen hat. Schermann
landet in einem Nebenlager und verbringt seine Zeit zunächst in der
Krankenstation.
Otto, ein
junger Kommunist aus Deutschland, den es auf der Flucht vor den Nazis und von
da in die Hände des sowjetischen Geheimdienstes gespült hat, drückt sich gerade
vor der Arbeit in den Kolonnen, die täglich in den Wald ziehen, um dort unter
Lebensgefahr Holz zu schlagen und zu verarbeiten. Da Schermann vorgibt, kein
Russisch zu sprechen, hat Otto nun eine Aufgabe – für Schermann zu übersetzen.
Irgendetwas
muss an diesem Neuen, an Rafael sein, dass selbst der Lagerkommandant die
beiden immer wieder zum Verhör antreten lässt. Und langsam blättert sich in den
Verhören und den Hinweisen aus Gesprächen das Leben des Rafael Schermann auf.
Diese Begabung, aus Schriftschnipseln Schlüsse über die Schreibenden ziehen zu
können. Damit begeisterte er zuvor europäische Geistesgrößen und fasziniert nun
nicht nur den Kommandanten, sondern selbst den lagerinternen Mafiaboss.
In einer der
vielen Besprechungen fand ich den interessanten Hinweis, welchen Stellenwert
Schrift, das geschriebene und gedruckte Wort in dieser Welt einnehmen. Alle in
dieser Welt scheinen auf die eine oder andere Art schriftgläubig zu sein. Hier
diejenigen, die glauben wollen, aus wenigen handschriftlichen Worten mehr oder
gar alles über die Schreibenden herausfinden zu können. Da diejenigen, deren
Leben an wenigen Worten per Telegramm hängt. Oder auch diejenigen, die so sehr
an nachgerade geheiligte Worte glauben wollen, dass sie ihr eigenes und das
Wohl der Welt darin erblicken mögen.
Nicht
zuletzt führt der, wie ich vermute, sehr penibel recherchierte Roman in eine unendlich
unmenschliche Welt, in der der Einzelne gar nichts mehr zählt, Menschen zu
Kakerlaken werden, Freundschaft und Zugewandtheit systemisch ausgemerzt werden –
alles das, was das Grauen eines totalitären Regimes ausmacht.
Hütet euch
vor Ideen, die zu einfach in Freund und Feind, schwarz und weiß einteilen –
ließe sich darunterschreiben. Hütet euch und vor den einfachen, bequemen
Wahrheiten und seht, was sie aus Menschen machen.
Menschings
Verdienst ist es dabei für mich, einzelne Figuren bis ins Kleinste
auszuzeichnen und greifbar werden zu lassen. Dabei bleibt jede einzelne der 820
Seiten lesbar und zwang mich förmlich noch eine und noch eine zu lesen. Für
mich ein echtes Großwerk!
Kurz und
gut: Sind doch nur 820 Seiten. Aber ehrlich – lesen! 😉
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