„Das Russische Staatsarchiv für soziopolitische Geschichte ist ein klobiger 20er-Jahre-Bau, der durchaus an jenen Sarkophag erinnert, den man dem traurig-berühmten Kraftwerk von Tschernobyl verpasst hat.“ (Seite 7)
Der Erzähler ist unschwer als literarisches Alter Ego von Eugen Ruge zu erkennen, der hier nachzeichnet, wie seine Oma und sein Opa als deutsche Kommunisten ins Räderwerk der stalinistischen Säuberungen gerieten und trotzdem an den Kommunismus glauben wollten.
Der Sarkophag von Tschernobyl erscheint mir deswegen eine grandiose Metapher zu sein, weil diese Erinnerungen das Gewalttätige, das Manipulierende, das schockierend Zufällige an den stalinistischen Säuberungen amtlich festhalten. Sowohl für eine Staatsmacht, die sich nach wie vor darauf gründet, als auch für die unzähligen Menschen, die in falscher Loyalität nicht sehen wollten und sich selbst das Hirn verbogen, um nicht sehen zu müssen, können derlei Akten nur hochgradig radioaktiv erscheinen. Denn diese Strahlung muss den Glauben daran, dass das doch schon alles irgendwie richtig gewesen sein muss, porös und löchrig werden lassen.
Eugen Ruge hat aus den Fundstücken über seine Großeltern einen großartigen, schockierenden und klarsichtigen Roman gestrickt und damit die Kaderakten zum Sprechen gebracht, wenngleich anders als von denen gedacht, die sie einmal anlegten und füllten.
Die spätere Großmutter Charlotte und ihr Mann reisen als Mitarbeiter:innen des Nachrichtendienstes der Komintern durch die Sowjetunion, wo sie auf der Flucht vor der Verfolgung in Nazi-Deutschland wie so viele andere Kommunist:innen Unterschlupf fanden. Wie andere vor und nach ihnen sind sie zunächst begeistert von der Heimat der Werktätigen.
Doch als sich, zurück in Moskau, herausstellt, dass einer ihrer Freunde als Verräter verurteilt und hingerichtet wird, wendet sich auch ihr Leben schlagartig. Sie werden umquartiert in das Hotel Metropol, eine Transitstation der Verfolgung, wo Angst, Selbstzweifel, Hoffnung und Denunziation Tür an Tür leben.
In diesem Mikrokosmus treffen immer wieder neue Leute wie Charlotte und ihr Mann ein, ebenso wie unzählige von jetzt auf gleich daraus verschwinden. Alle hoffen, dass es sie nicht trifft, ihre Unschuld bewiesen würde, während wohl die wenigsten in der Lage wären, ihre Schuld überhaupt zu benennen.
Ruge lässt uns erleben, wie die stalinistischen Mechanismen Menschen und Zwischenmenschliches vergiftet haben, was gestern noch wahr war heute verdreht und verknoten konnten, wie Misstrauen gegen alles und jeden selbst das Vertrauen ins sich selbst zerfressen ließen.
Einige Rezensionen, die ich gefunden habe, bezogen das hier Beschriebene auch auf das Aufkommen von Fake News, auf absichtsvoll zur Unkenntlichkeit verdrehte Tatsachen. Ich würde einen Schritt weitergehen und spätestens seit dem Krieg Russlands gegen die Ukraine auch die hybride Art der Kriegführung gegen den Westen insgesamt nennen. Leider finden diese Methoden ihre Erfüllungsgehilfen in insbesondere den Rechtspopulisten, die überall in den westlichen Demokratien ihr unheilvolles Werk tun.
Trotz all dem, was wir aus der Geschichte oder aus Geschichten wie dieser von Eugen Ruges Großeltern lernen könnten, funktionieren diese Methoden immer noch – solange sie nicht klar benannt und der Strahlung aufgedeckter und analysierter Erinnerung ausgesetzt werden.
In diesem Sinne ist Eugen Ruge ein hellsichtiger und weiser Roman gelungen, der obendrein großartig geschrieben ist. Großartig wegen der Worte, die Ruge gefunden hat, als auch wegen der Zeichnung der verschiedenen Charaktere in all ihrer Ambivalenz, Stärke, Ignoranz, Borniertheit, Loyalität und auch Angst.
Dies hier ist die von Rowohlt lizensierte Ausgabe der Büchergilde Gutenberg, die ich gern einmal mehr für ihre Gestaltung loben will.
Kurz und gut: Intensiv, dicht, erschütternd und erhellend. Lesen, unbedingt!
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