Mittwoch, 25. Dezember 2024

Michel Houellebecq: Serotonin


„ES IST EINE KLEINE WEISSE, ovale, teilbare Tablette.“ (Seite 5)

Also meine literarische Serotoninausschüttung wird von Houellebecq-Romanen ja eher nicht angeregt. Es ist eher so ein „nicht-ignorieren-Können“. Aber immerhin, dass der Autor schreiben kann, präzise-lakonisch, wird ja von niemandem bestritten.

Ok, ich versuche es anders. 😉

Du sitzt am Tresen deiner Lieblingskneipe, die sich, weil sie ein Mittelschichtspublikum anziehen will, Bar nennt aber trotzdem leidlich urig ist. Normalerweise sind die Leute hier ganz ok. Man kann sogar mit Fremden ins Gespräch kommen.

Auf den Barhocker neben dir schwingt sich, betont stöhnend, ein Mann, so in den späten Vierzigern vielleicht. Die Kleidung lässt auf die Art Mittelschicht schließen, die es sich leisten kann, absichtsvoll ein wenig zerknittert und abgetragen zu wirken, um zu signalisieren, dass ihr Träger das echte Leben kennt.

Das Kinn leicht stoppelig, melancholisch zerfurchte Stirn, bestellt der Typ bei der Bedienung einen Whiskey, aber nicht den billigen. Die Stimme krächzt dabei ein bisschen heiser und eine Spur erstaunlich zu hoch. So richtige ganze Sätze mit höflichem Tonfall vorgetragen sind nicht zu vernehmen. Hier leidet jemand doch unverhohlen. Aber auf eine Art, bei der sich bei dir sofort das leicht unangenehme Gefühl einstellt, dass er auch will, dass es andere mitbekommen. Nein, nimmst du dir vor, du fragst nicht und willst keines dieser komischen Gespräche an der Backe haben.

Der Typ brabbelt etwas vor sich hin, aber so leicht in deine Richtung. Und instinktiv fragst du „Bitte?“ und tappst genau in die Gesprächsfalle, die du vermeiden wolltest. Jetzt hat er deine Aufmerksamkeit, tut aber weiterhin so, als wolltest du etwas von ihm. Du bist am Haken und weißt genau, dass du zu höflich bist, das einzig Richtige zu tun und das Gespräch zu beenden, bevor es noch richtig in Gang kommen kann.

Aber zu spät. Er steigt ein mit seiner japanischen Frau, die er nach einem FKK-Urlaub verlassen hat – aha, das tut mir leid – und ignoriert geflissentlich, dass du nichtssagend kommentierst. Du kapitulierst fürs Erste, bestellst noch ein Bier und denkst dir, dass es so schlimm nicht werden kann. Nur dieses eine Bier noch.

Und schon entblättert sich ein ganzes gehobenes Mittelschichtsleben neben dir auf dem Barhocker. Gute Ausbildung, gut bezahlter Job, keinerlei größere Ambitionen, ach und Frauen – Frauen sind ein Thema. Erst täuschen sie einen mit Jugendlichkeit, klaren Augen und festen Brüsten, nur um einen dann nur noch zu deprimieren mit ihrem Älter- und faltiger und Saftloserwerden. Hobbys, Träume, Freunde scheint der Typ nicht zu haben, aber ein Leben, dass er nach den Frauen einteilt, die er gehabt zu haben scheint, aber allesamt vergrault hat. So klingt es wenigstens für dich. Auch wenn er da entschieden anderer Sicht ist.

Und überhaupt, das moderne Leben mit all seinen Zumutungen für Männer wie ihn. Frauen mit Ansprüchen scheinen eine solche für ihn zu sein, Schwule sowieso, Gendern könnte noch vorkommen, dabei fährt er immerhin einen Mercedes Geländewagen. Du schaust dir den Typen zwischendurch genauer an und denkst nur: „Du hässlicher Kackvogel, ein Wunder, dass überhaupt jemand was mit dir zu tun haben will!“ Aber er redet einfach weiter, auch nur so halb zu dir hin, weil er davon ausgeht, dass du ihm zuhörst. Hier trägt jemand immerhin die gesamte Last des Lebens auf seinen nicht sonderlich breiten Schultern.

Ach, und einen Freund hat er doch. Bauer, aus adeliger Familie. Der hat immerhin versucht, einen Biohof aufzubauen. Der hat was versucht. Und dann ist ihm die Frau mit Kindern davongerannt, weil es nicht gut genug lief. Und Schuld hat natürlich die globalisierte EU mit ihren Verordnungen. Auf die Barrikaden ist er gegangen. Also buchstäblich und hat sich vor laufender Kamera den Kopf weggeschossen. So weit sind wir schon gekommen. Und ein pädophiler deutscher Ornithologe war da auch noch. Pfui, kann man da nur sagen.

Aus den Medien weißt du, dass die Umfragen für die #noafd immer wieder neue Rekorde hervorbringen. Du fragst dich seit langem, wer diese Leute sind, die sich über alles und jeden aufregen und glauben in allem zu kurz zu kommen und dann diese Politclowns wählen. Naja, da sitzt einer neben dir. Hat lange genug von dem System profitiert, gegen das er hier wettert. Hat als fleischgewordenes Mittelmaß mitgemacht und nicht gemerkt, merken wollen, wie leer sein Leben ist. Und nun trägt er sein Selbstmitleid vor sich her, faselt davon, dass er auch einfach gehen könne. Du bist dir sicher, der geht letztlich nirgendwohin, solange ihm jemand in seinem Frust zuhört, dessen Ursprung er selbst nicht mal benennen könnte. Fast wünschst du ihm, dass es „nur“ eine Depression wäre, gegen die ein paar Tabletten helfen.

Und da schließt sich der Kreis, denn die nimmt er ja schon. Und was hat es ihm gebracht, außer dem Verlust seiner Libido. Nicht mal Ficken macht mehr Spaß.

Zahlen bitte, schnell!

Kurz und gut: Nach dem Festtagsessen ein literarischer Magenbitter. Lesen, naja!

(Übersetzung: Stephan Kleiner)

#lesewinter #roman #michelhouellebecq #dumont #frankreich #midlife #lebensunlust #mittelschicht #depressiv #globalisierung #lesen #leselust #lesenswert #leseratte #bücher #literatur

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen