„Sie sind uns scheinbar völlig fremd und gleichzeitig merkwürdig nahe, fast wie Zeitgenossen. ‚Sie‘ – das sind die kriminellen Nazis, deren Leben und Taten der auf diese Epoche spezialisierte Zeithistoriker erkundet, deren Schriften er liest, deren Werdegang und geistigen Horizont er untersucht.“ (Seite 7)
In dieser kleinen Studie von gerade mal 150 Seiten geht es dem Zeithistoriker Chapoutou darum zu zeigen, wie die unaussprechlichen Gräueltaten der Nazis organisiert wurden und wie die Organisationsprinzipien sich in Managementausbildungen weit nach dem Zweiten Weltkrieg noch wiederfinden konnten.
Zeitsprung.
Wer kennt sie nicht, die Rede von der Leistungsgesellschaft. Leistung, die sich wieder lohnen soll. Und die Anforderungen, die diese Leistungsbereitschaft so mit sich bringt: Selbstoptimierung, Handeln in einem übergeordneten Sinn, Kranksein geht gerade nicht, Härte gegen sich selbst, Selbstausbeutung …
Im Allgemeinen verstehen wir all diese Forderungen an uns als Zeichen des nach wie vor wirkmächtigen neoliberalen Zeitgeistes. Der hat gerade vermittels so vieler Inhalte auf den Social Media Plattformen so richtig dafür gesorgt, dass Chef:innen inzwischen oft genug darauf bauen können, dass Arbeitnehmer:innen tief verinnerlicht haben, dass es ihre Pflicht sei immer und jederzeit auf höchstem Level zu performen.
Wir bilden uns weiter, wenn wir Zeit dafür finden. Wir konditionieren uns auf Wohlverhalten, Gewinnorientierung und Kund:innenzufriedenheit. Wir haben gelernt, dass unsere Körper ebenso unser Kapital sind und joggen, gehen ins Fitnessstudio, futtern Proteine. Noch verrückter ist aber, dass wir in Erfolg oder Nichterfolg, Karriere oder Stagnation ausschließlich unser eigenes Handeln wiedergespiegelt sehen. Als würde all das ausschließlich an unserem Versagen oder Siegen liegen. Als gäbe es keinerlei Rahmenbedingungen, die Dinge befördern oder bremsen können.
Wenn ich Kurzvideos von Teenagern sehe, die von ihrem Business reden, ihre Zeit damit verbringen, ihren Körper zu optimieren, Tipps für noch mehr Selbstoptimierung an Gleichaltrige geben, und dann fällt mir ein solches Buch in die Hände, dann werde ich nachdenklich.
Natürlich sprechen wir auch in den Kontexten, in denen ich selbst unterwegs bin, darüber, wie Arbeiten besser organisiert werden können, darüber, was Kolleg:innen brauchen, um ihre Arbeit besser bewältigen zu können. Und ja, dabei fallen immer auch die üblichen Vokabeln der Effizienz usw.
Skeptisch macht mich dann aber schon sehr schnell, wenn aus gutgemeintem Einsatzwillen für die Sache, für die Firma, für das, was irgendwie über anderem schwebt, Verantwortungen so leichtfertig verschoben werden. Ja, ich bin natürlich für mein eigenes Handeln verantwortlich. Aber wenn klar ist, dass es Kontexte, Rahmenbedingungen gibt, die ich nicht oder nur sehr bedingt beeinflussen kann, wird dann die Rede von der Eigenverantwortung nicht nur Manipulation?
Ok, ok, ich bin jetzt sehr viel weiter als dieser Band von Chapoutout geht. Also zurück zum Text. Denn hier zeigt der Autor auf, wie durch personelle Kontinuitäten auch Organisationsprinzipien und -verständnisse weit über die Zeit des Nationalsozialismus hinausreichten. Oder härter formuliert: Erst wurden mittels solcher Prinzipien die Gräuel der Nazis effizient organisiert und später dann der Wiederaufbau und das Wirtschaftswunder.
Nun bleibt die Frage, ob das tradierte Managementwissen, um das es hier geht, durch diese Vorgeschichte und die Kontinuitäten per se vergiftet sei. Vermutlich kommt es bei den einzelnen Methoden etc. eben auch auf den Kontext an. Denn auch Harmloses lässt sich missbrauchen und als Mittel für Schlimmstes einsetzen.
Was es also offenbar braucht, ist ein individueller Kompass, der erkennen hilft, ob und wofür man sich einspannen lässt. Ob dies tragbar und im eigenen Interesse ist oder eben nicht. Zur Ausbildung eines solchen Kompasses gehört es dann unweigerlich vermutlich auch, sich über solche historischen Zusammenhänge im Klaren zu sein und sie zu benennen.
Ganz abgesehen davon, dass es immer wieder erschütternd ist, welche Verstrickungen selbst nach Jahrzehnten der Forschung noch gefunden werden – allen Versuchen der Verharmlosung des Nationalsozialismus von Neurechten und Co zum Trotz.
Kurz und gut: Kann man allen, die irgendwie mit Management zu tun haben, gut unter den Weihnachtsbaum legen. Lesen!
(Übersetzung: Clemens Klünemann)
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