„Die dramatischen Bilder von der türkisch-griechischen Grenze, die im Frühjahr 2020 über unsere Fernsehschirme flimmerten, waren an Wucht nicht zu überbieten: Busse, die tausende Geflüchtete durch die Türkei an die Grenze brachten, türkische Sicherheitskräfte, die Menschen auf die Grenze zutrieben, dazwischen Elendslager mit zum Trocknen aufgehängter Wäsche, eine griechische Grenzpolizei, die hektisch Betonsperren aufstellte und Stacheldraht ausrollte, aufflackernde Blendgranaten, dazu mannshohe Hochleistungsventilatoren, die Tränengaswolken auf die türkische Seite hinüberbliesen.“ (Seite 9)
Huh, kaum 170 Seiten und gleich am Anfang knallen die wiederhochgeholten Bilder schon böse rein. Dabei bleibt diese kleine Studie Maus sachlich, nüchtern, analytisch – wie man Steffen Mau halt inzwischen kennt.
Grenzen.
Die erste Grenze, an die meine Erinnerung zurückreicht, war die zum kapitalistischen Westen. In der Realität verlief sie vielleicht 40 Kilometer von dem Ort, in dem ich aufgewachsen bin. Ich wusste, dass es sie gibt. Sie blieb aber, bis ich 14 Jahre alt wurde, rein theoretisch. Im Fernseher konnte ich sehen, was sich dahinter abspielte und dass es da eine Welt gab, die fern meiner eigenen war. Eine Vorstellung davon, wie sie konkret aussieht, hatte ich nicht.
Eine zweite Erinnerung ist, dass es Besucher:innen gab, die offenbar einfach so aus dem Westen zu uns fahren konnten und Geschenke mitbrachten. Sie sprachen wie wir, bis auf den Dialekt natürlich, sie gingen auf zwei Beinen. Aber sie fuhren eines dieser sagenhaften Westautos und, das Wichtigste, sie konnten einfach so über diese so unkonkrete wie für uns undurchdringliche Grenze hin und her fahren.
Meinen ersten eigenen Grenzübertritt erlebte ich mit 11 Jahren. Meine Eltern heirateten heimlich im Urlaub in Bad Schandau an der Elbe, wenige Kilometer vor der Grenze zwischen der DDR und der Tschechoslowakei. Zum Hochzeitsprogramm gehörte ein Ausflug über die Grenze, natürlich in unserem Trabi. Wir mussten lange in einer Autoschlange stehen, bis sehr grimmig dreinschauende Grenzer mit strengem Blick die Ausweise kontrollierten. Einer der Soldaten trug eine Kiste vor dem Bauch, in der er in Karteikarten blätterte und Nummern abglich. Hinterher erfuhr ich, dass Vater Sorge hatte, dass er womöglich auf irgendeiner Liste hätte stehen können, die dafür sorgt, dass er die Grenze nicht hätte passieren dürfen.
Ein paar Jahre später fuhren wir im gleichen Trabi die knapp 40 Kilometer von zuhause in Richtung Westen, um wie alle das Begrüßungsgeld in Empfang zu nehmen. Wieder lange Autoschlangen. Aber diese Grenze blieb so unreal für mich wie zuvor. Nur die Kommentare wie „Hier haben sie gestanden“ und „Bis hierher wären wir noch gekommen“ ließen eine Ahnung aufkommen, dass diese auf der Karte noch nachvollziehbare Linie mal eine echte Grenze war.
Damit trat ich ein in mein persönliches Zeitalter der grenzenlosen Freiheit. Immerhin gab es von nun an unzählige Berichte im Freundes- und Bekanntenkreis darüber, wer jetzt alles wo gewesen sei. Bisher undenkbar zu erreichende Orte rückten plötzlich als mögliche Realität immer näher.
Weitere Jahre später unternahm ich eine einwöchige Autoreise mit einem Freund. Sie führte uns von Thüringen aus nach Straßburg, weiter nach Paris, nach Brügge und Antwerpen. Einfach so. Die einzigen Grenzen, die ich wahrnahm, waren, dass aus dem Geldautomaten mit meiner eigenen Karte ganz anderes Geld kam und auf der Autobahn tatsächlich alle 120 km/h fuhren.
Das unkomplizierte Überqueren von Grenzen war auch in meinem Alltag zu einer Selbstverständlichkeit geworden. Menschen um mich herum erzählen seither ständig von Reisen hierhin und dorthin. Freunde leben plötzlich in anderen Ländern und ich könnte sie jederzeit besuchen. Aber halt – da ist eine neue Grenze, die sich auftut. Die auch hier spürbar ist. Diese Grenze wird durch das Geld gezogen, das Menschen in sehr unterschiedlichem Ausmaß zur Verfügung steht, um sich dieses selbstverständliche Passieren von Grenzen auch leisten zu können.
Von hier ist es gedanklich kein so großer Schritt mehr dahin, zumindest zu erahnen, dass dieses für uns im reichen Deutschland so vollkommen normale Überqueren von Grenzen für einen Großteil der Menschheit gar nicht so selbstverständlich ist. Womit ich nun tatsächlich auch bei dieser Studie von Steffen Mau angekommen wäre.
Er beschreibt klar und analytisch die Funktionen, die Grenzen heute erfüllen, wie immer mehr Hightech für scheinbar mehr Sicherheit dafür sorgt, dass Grenzen nur für vergleichsweise wenige Menschen tatsächlich so bedeutungslos geworden sind. Für die Mittelstandsfamilie aus einer deutschen Kleinstadt auf ihrem Familienurlaub mag das ein paar lästige aber letztlich unkomplizierte Stunden bedeuten. Aber für diejenigen, die wie die Menschen aus Syrien, um die es im Eingangszitat aus dem Buch geht, ist das ganz offensichtlich deutlich anders.
Grenzen dienen, so die Grundaussage des Buches, heute mehr denn je als Sortiermaschinen. Wer den richtigen Pass hat und genügend Geld zur Verfügung, für den sind Grenzen durchlässiger als für diejenigen, die weder das eine noch das andere vorweisen können.
Die Debatten um Migration, die nun seit Jahren geführt werden, unterstreichen das einmal mehr. Da werden Grenzbefestigungen gefordert, eine Abschottung, die andere draußen halten soll, während wir hier in keinem Fall bereit wären, auf unsere Erholungsreisen zu verzichten. Ich habe gut die empörten Klagen von Bekannten im Ohr über Momente, in denen sie ihr Recht auf unkomplizierte Grenzübertritte deutlich angegriffen fühlten, weil die Grenzregime zum Beispiel von den USA oder Israel auch vor einigen Jahren schon dieses vermeintliche Recht zu unterminieren schienen.
Um eine Ahnung davon zu bekommen, was da um uns herum passiert, welche konkreten Folgen für Menschen politische Debatten an sehr konkreten Grenzen in unserer nur scheinbar so grenzenlosen Welt haben, allein dafür lohnt sich dieser Band. Klar genieße auch ich den Luxus, den richtigen Pass zu besitzen. Aber ich möchte ehrlich gesagt auch nicht vergessen, in welchen Kontexten die damit verbundene Freiheit an Grenzen steht, wenn ich nur ein weniger weiterdenke als bis an den nächsten Pool in einem fernen Land.
#lesewinter #sachbuch #steffenmau #chbeck #soziologie #politik #grenzen #mauern #globalisierung #nationalstaat #armundreich #hightech #reisepass #luxus #repression #polbil #lesen #leselust #lesenswert #leseratte #bücher
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen