„Dieter starb nur wenige Tage vor seinem 65. Geburtstag.“ (Seite 9)
An den Anfang stellt Kowalczuk die Geschichte seines Schwiegervaters, die sicher exemplarisch für viele von dessen Generation stehen kann - in den Dreißigern des letzten Jahrhunderts geboren und nach dem Krieg vermutlich voller Hunger auf das Leben. Die DDR bot ihm die Möglichkeit für den sozialen Aufstieg, wofür er mitmachte. Angesichts der überbordenden bundesrepublikanischen Konsumrealität zur Wendezeit, die vielen wie ihm die Tränen darüber in die Augen trieb, was bisher unfassbar aber jetzt greifbare Realität geworden war, rafft er sich zusammen und klotzt ran, um sich ein neues, besseres Leben aufzubauen. Doch die Geschichte sieht einmal mehr harte Enttäuschungen vor; darüber was Westdeutschen im Osten vergönnt und Ostdeutschen im Osten verwehrt wurde. Acht Jahre des wiedervereinigten Deutschlands erlebte er noch. Das war dann sein Leben.
Ich vermute, dass die meisten Ostdeutschen solche Geschichten und noch viele mehr kennen. Und sie werden auch nach wie vor noch erzählt und weitergegeben. Ob ihnen eine umfassende Aussagekraft zukommt, das untersucht Kowalczuk mit diesem 2019 erschienenen Essay.
Die Darstellung setzt 1989 mit der „unvorstellbaren Revolution“ ein und berichtet im Folgenden von den großen, bis heute immer wieder aufflammend heiß debattierten Themen: Alternativen zum Beitritt, die ostdeutsche Gesellschaft als zweite Klasse, Treuhand und wirtschaftlicher Ausverkauf, Brüche und Niedergänge im Sozialen und Kulturellen, Elitenwechsel …
Es sind die seit Jahren bekannten und spätestens mit Dirk Oschmanns Buch 2023 wieder einmal durchgekauten Themen. Den Unterschied macht, dass Kowalczuk zwar nicht zimperlich in seinen Einschätzungen ist, aber Ostdeutsche eben nicht per se als Opfer darstellt, die der Geschichte ausschließlich ausgeliefert seien. Auch das Heldenlied der Revolution aller Ostdeutscher stimmt er so nicht an, sondern macht immer wieder deutlich, dass das Mitläufertum, das Abwarten als bewusstes Handeln in der ostdeutschen Gesellschaft vor und nach der Wende mehrheitsfähig war.
Auch hier taugt sicher Kowalczuks Schwiegervater als Beispiel für all diejenigen, die Kompromisse eingingen, ohne zwingend in die erste Reihe zu drängen und nach der Wende lernen mussten, dass auch jetzt eine nicht immer geringe Anpassungsleistung Grundvoraussetzung für ein anständiges Leben war.
An Kowalczuks Texten schätze ich, die pointierte Darstellung sehr. Ich teile nicht jedes Urteil inhaltlich und mitunter auch nicht den harschen Tonfall. Aber er packt als Ostdeutscher die Ostdeutschen nicht in Watte. Damit erweist er, finde ich, Ostdeutschland und den Menschen hier einen größeren Dienst als es Oschmanns Essay vermochte. Aus Kowalczuks Worten spricht für meinen Geschmack damit deutlich, dass er die Menschen hier ernstnimmt und eben nicht zum reinen Objekt von Debatten über sie verkommen lässt.
Kurz und gut: Macht mitunter Aua, ist aber inspirierend. Lesen, unbedingt!
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