Samstag, 21. Dezember 2024

Steffen Mau: Sortiermaschinen. Die Neuerfindung der Grenze im 21. Jahrhundert


„Die dramatischen Bilder von der türkisch-griechischen Grenze, die im Frühjahr 2020 über unsere Fernsehschirme flimmerten, waren an Wucht nicht zu überbieten: Busse, die tausende Geflüchtete durch die Türkei an die Grenze brachten, türkische Sicherheitskräfte, die Menschen auf die Grenze zutrieben, dazwischen Elendslager mit zum Trocknen aufgehängter Wäsche, eine griechische Grenzpolizei, die hektisch Betonsperren aufstellte und Stacheldraht ausrollte, aufflackernde Blendgranaten, dazu mannshohe Hochleistungsventilatoren, die Tränengaswolken auf die türkische Seite hinüberbliesen.“ (Seite 9)

Huh, kaum 170 Seiten und gleich am Anfang knallen die wiederhochgeholten Bilder schon böse rein. Dabei bleibt diese kleine Studie Maus sachlich, nüchtern, analytisch – wie man Steffen Mau halt inzwischen kennt.

Grenzen.

Die erste Grenze, an die meine Erinnerung zurückreicht, war die zum kapitalistischen Westen. In der Realität verlief sie vielleicht 40 Kilometer von dem Ort, in dem ich aufgewachsen bin. Ich wusste, dass es sie gibt. Sie blieb aber, bis ich 14 Jahre alt wurde, rein theoretisch. Im Fernseher konnte ich sehen, was sich dahinter abspielte und dass es da eine Welt gab, die fern meiner eigenen war. Eine Vorstellung davon, wie sie konkret aussieht, hatte ich nicht.

Eine zweite Erinnerung ist, dass es Besucher:innen gab, die offenbar einfach so aus dem Westen zu uns fahren konnten und Geschenke mitbrachten. Sie sprachen wie wir, bis auf den Dialekt natürlich, sie gingen auf zwei Beinen. Aber sie fuhren eines dieser sagenhaften Westautos und, das Wichtigste, sie konnten einfach so über diese so unkonkrete wie für uns undurchdringliche Grenze hin und her fahren.

Meinen ersten eigenen Grenzübertritt erlebte ich mit 11 Jahren. Meine Eltern heirateten heimlich im Urlaub in Bad Schandau an der Elbe, wenige Kilometer vor der Grenze zwischen der DDR und der Tschechoslowakei. Zum Hochzeitsprogramm gehörte ein Ausflug über die Grenze, natürlich in unserem Trabi. Wir mussten lange in einer Autoschlange stehen, bis sehr grimmig dreinschauende Grenzer mit strengem Blick die Ausweise kontrollierten. Einer der Soldaten trug eine Kiste vor dem Bauch, in der er in Karteikarten blätterte und Nummern abglich. Hinterher erfuhr ich, dass Vater Sorge hatte, dass er womöglich auf irgendeiner Liste hätte stehen können, die dafür sorgt, dass er die Grenze nicht hätte passieren dürfen.

Ein paar Jahre später fuhren wir im gleichen Trabi die knapp 40 Kilometer von zuhause in Richtung Westen, um wie alle das Begrüßungsgeld in Empfang zu nehmen. Wieder lange Autoschlangen. Aber diese Grenze blieb so unreal für mich wie zuvor. Nur die Kommentare wie „Hier haben sie gestanden“ und „Bis hierher wären wir noch gekommen“ ließen eine Ahnung aufkommen, dass diese auf der Karte noch nachvollziehbare Linie mal eine echte Grenze war.

Damit trat ich ein in mein persönliches Zeitalter der grenzenlosen Freiheit. Immerhin gab es von nun an unzählige Berichte im Freundes- und Bekanntenkreis darüber, wer jetzt alles wo gewesen sei. Bisher undenkbar zu erreichende Orte rückten plötzlich als mögliche Realität immer näher.

Weitere Jahre später unternahm ich eine einwöchige Autoreise mit einem Freund. Sie führte uns von Thüringen aus nach Straßburg, weiter nach Paris, nach Brügge und Antwerpen. Einfach so. Die einzigen Grenzen, die ich wahrnahm, waren, dass aus dem Geldautomaten mit meiner eigenen Karte ganz anderes Geld kam und auf der Autobahn tatsächlich alle 120 km/h fuhren.

Das unkomplizierte Überqueren von Grenzen war auch in meinem Alltag zu einer Selbstverständlichkeit geworden. Menschen um mich herum erzählen seither ständig von Reisen hierhin und dorthin. Freunde leben plötzlich in anderen Ländern und ich könnte sie jederzeit besuchen. Aber halt – da ist eine neue Grenze, die sich auftut. Die auch hier spürbar ist. Diese Grenze wird durch das Geld gezogen, das Menschen in sehr unterschiedlichem Ausmaß zur Verfügung steht, um sich dieses selbstverständliche Passieren von Grenzen auch leisten zu können.

Von hier ist es gedanklich kein so großer Schritt mehr dahin, zumindest zu erahnen, dass dieses für uns im reichen Deutschland so vollkommen normale Überqueren von Grenzen für einen Großteil der Menschheit gar nicht so selbstverständlich ist. Womit ich nun tatsächlich auch bei dieser Studie von Steffen Mau angekommen wäre.

Er beschreibt klar und analytisch die Funktionen, die Grenzen heute erfüllen, wie immer mehr Hightech für scheinbar mehr Sicherheit dafür sorgt, dass Grenzen nur für vergleichsweise wenige Menschen tatsächlich so bedeutungslos geworden sind. Für die Mittelstandsfamilie aus einer deutschen Kleinstadt auf ihrem Familienurlaub mag das ein paar lästige aber letztlich unkomplizierte Stunden bedeuten. Aber für diejenigen, die wie die Menschen aus Syrien, um die es im Eingangszitat aus dem Buch geht, ist das ganz offensichtlich deutlich anders.

Grenzen dienen, so die Grundaussage des Buches, heute mehr denn je als Sortiermaschinen. Wer den richtigen Pass hat und genügend Geld zur Verfügung, für den sind Grenzen durchlässiger als für diejenigen, die weder das eine noch das andere vorweisen können.

Die Debatten um Migration, die nun seit Jahren geführt werden, unterstreichen das einmal mehr. Da werden Grenzbefestigungen gefordert, eine Abschottung, die andere draußen halten soll, während wir hier in keinem Fall bereit wären, auf unsere Erholungsreisen zu verzichten. Ich habe gut die empörten Klagen von Bekannten im Ohr über Momente, in denen sie ihr Recht auf unkomplizierte Grenzübertritte deutlich angegriffen fühlten, weil die Grenzregime zum Beispiel von den USA oder Israel auch vor einigen Jahren schon dieses vermeintliche Recht zu unterminieren schienen.

Um eine Ahnung davon zu bekommen, was da um uns herum passiert, welche konkreten Folgen für Menschen politische Debatten an sehr konkreten Grenzen in unserer nur scheinbar so grenzenlosen Welt haben, allein dafür lohnt sich dieser Band. Klar genieße auch ich den Luxus, den richtigen Pass zu besitzen. Aber ich möchte ehrlich gesagt auch nicht vergessen, in welchen Kontexten die damit verbundene Freiheit an Grenzen steht, wenn ich nur ein weniger weiterdenke als bis an den nächsten Pool in einem fernen Land.

Kurz und gut: Weihnachtsurlaub bis über den Jahreswechsel? Da passt dieser Band vorzüglich. Lesen, unbedingt!

#lesewinter #sachbuch #steffenmau #chbeck #soziologie #politik #grenzen #mauern #globalisierung #nationalstaat #armundreich #hightech #reisepass #luxus #repression #polbil #lesen #leselust #lesenswert #leseratte #bücher

Donnerstag, 19. Dezember 2024

Zoë Beck: Das zerbrochene Fenster


„Ich muss die kaputte Scheibe endlich austauschen.“ (Seite 7)

Ein Mann und eine Frau streiten sich. Sie stößt ihn rückwärts in eine Tür mit Fenster. Er verletzt sich und verschwindet spurlos. Sieben Jahre lang versucht die Frau darüber hinwegzukommen, dass sie wortlos und ohne weitere Erklärung verlassen wurde. Dann geschieht ein Mord und sie steht auf der Polizeiwache und erklärt, ihr verschwundener Freund sei der Mörder.

Das wäre natürlich kein Thriller von Zoë Beck, wenn nicht noch mehr interessante Figuren auftauchten, die Handlung sich über verschiedene Zeitebenen verschachteln würde und es beim banalen who done it bliebe. 😉

Philippa entstammt einer schwerreichen Familie, entscheidet sich aber gegen das Leben als Tochter im Familienunternehmen und geht ihren eigenen Weg – als durchaus erfolgreiche Klavierbauerin; zuletzt mit einer eigenen kleinen Werkstatt in Schottland. Als reichte das nicht aus, ihre Eltern und auch die Geschwister ordentlich auf Trab zu halten, freundet sie sich auch noch mit einem mittellosen Hilfsarbeiter aus der Firma des Vaters an, mit dem sie schließlich zusammen nach Schottland zieht. Eltern und Geschwister spielen aber natürlich auch in der Geschichte weiter eine Rolle.

Sean kommt in Schottland im Gegensatz zu Philippa beruflich kein Stück weiter. Die Beziehung der erfolgreichen (und zumindest potentiell reichen Tochter) und des armen Hilfsarbeiters steht also vor einer harten Probe. Nunja, Sean verschwindet halt nach dem Streit.

Die starke, unabhängige Philippa kämpft sieben lange Jahre damit, keine Antworten zu erhalten. Aber keine Sorge, das ist nicht die Geschichte vom armen Frauchen, das dann doch nur „das schwache Geschlecht“ repräsentiert und sich nichts sehnlicher wünscht, als zurück in den starken Armen … na ihr wisst schon. Philippas Geschichte ist die des nicht Abschließenkönnens; es geht um das erklärungslose Verlassenwerden. Sie bleibt dabei eine starke, unabhängige Frau, auch wenn Depressionen dunkel nach ihr greifen.

Als sie endlich ein irgendwie neues Leben anfangen kann, geschieht dieser Mord. Möglicherweise gibt es nach Jahren die ersten ernsthaften Hinweise auf Sean. Was Philippa dazu bringt, ihn des Mordes zu bezichtigen. Na, das lest ihr mal hübsch selbst.

Vorzüglich finde ich mal wieder das ganze Personal der Story, ich sag mal, typisch normal beschädigte Leute. Die wohlhabenden Geschwister, fürsorglich der eine, tabletten- und shoppingsüchtig die andere. Seans schrullig werdender Vater. Philippas neuer Freund. Der kauzige und von Panikattacken geplagte vielleicht-Erbe eines Medienunternehmens.

Sie alle sind mit vielen Details ausgestattet, ihre Geschichten natürlich irgendwie miteinander verwoben. Und diese Geschichten liefern genügend Stoff für mehr als nur eine Fährte zur Lösung des Mordfalles, um den es ja auch noch geht.

Wie bisher in allen Romanen von Beck, die ich bisher gelesen habe, machen Tempo und Erzählstil einfach Spaß, unterfordern nicht und bleiben eben doch auch kitzelig unterhaltsam.

Kurz und gut: Mal nicht Tatort gucken. Lesen, macht mal! 😉

#leseherbst #roman #thriller #zoebeck #suhrkamp #schottland #vergangenheit #armundreich #panik #verlust #abschliessen #liebe #spannung #lesen #leselust #lesenswert #leseratte #bücher #literatur

Mittwoch, 18. Dezember 2024

Ilko-Sascha Kowalczuk: Die Übernahme. Wie Ostdeutschland Teil der Bundesrepublik wurde


„Dieter starb nur wenige Tage vor seinem 65. Geburtstag.“ (Seite 9)

An den Anfang stellt Kowalczuk die Geschichte seines Schwiegervaters, die sicher exemplarisch für viele von dessen Generation stehen kann - in den Dreißigern des letzten Jahrhunderts geboren und nach dem Krieg vermutlich voller Hunger auf das Leben. Die DDR bot ihm die Möglichkeit für den sozialen Aufstieg, wofür er mitmachte. Angesichts der überbordenden bundesrepublikanischen Konsumrealität zur Wendezeit, die vielen wie ihm die Tränen darüber in die Augen trieb, was bisher unfassbar aber jetzt greifbare Realität geworden war, rafft er sich zusammen und klotzt ran, um sich ein neues, besseres Leben aufzubauen. Doch die Geschichte sieht einmal mehr harte Enttäuschungen vor; darüber was Westdeutschen im Osten vergönnt und Ostdeutschen im Osten verwehrt wurde. Acht Jahre des wiedervereinigten Deutschlands erlebte er noch. Das war dann sein Leben.

Ich vermute, dass die meisten Ostdeutschen solche Geschichten und noch viele mehr kennen. Und sie werden auch nach wie vor noch erzählt und weitergegeben. Ob ihnen eine umfassende Aussagekraft zukommt, das untersucht Kowalczuk mit diesem 2019 erschienenen Essay.

Die Darstellung setzt 1989 mit der „unvorstellbaren Revolution“ ein und berichtet im Folgenden von den großen, bis heute immer wieder aufflammend heiß debattierten Themen: Alternativen zum Beitritt, die ostdeutsche Gesellschaft als zweite Klasse, Treuhand und wirtschaftlicher Ausverkauf, Brüche und Niedergänge im Sozialen und Kulturellen, Elitenwechsel …

Es sind die seit Jahren bekannten und spätestens mit Dirk Oschmanns Buch 2023 wieder einmal durchgekauten Themen. Den Unterschied macht, dass Kowalczuk zwar nicht zimperlich in seinen Einschätzungen ist, aber Ostdeutsche eben nicht per se als Opfer darstellt, die der Geschichte ausschließlich ausgeliefert seien. Auch das Heldenlied der Revolution aller Ostdeutscher stimmt er so nicht an, sondern macht immer wieder deutlich, dass das Mitläufertum, das Abwarten als bewusstes Handeln in der ostdeutschen Gesellschaft vor und nach der Wende mehrheitsfähig war.

Auch hier taugt sicher Kowalczuks Schwiegervater als Beispiel für all diejenigen, die Kompromisse eingingen, ohne zwingend in die erste Reihe zu drängen und nach der Wende lernen mussten, dass auch jetzt eine nicht immer geringe Anpassungsleistung Grundvoraussetzung für ein anständiges Leben war.

An Kowalczuks Texten schätze ich, die pointierte Darstellung sehr. Ich teile nicht jedes Urteil inhaltlich und mitunter auch nicht den harschen Tonfall. Aber er packt als Ostdeutscher die Ostdeutschen nicht in Watte. Damit erweist er, finde ich, Ostdeutschland und den Menschen hier einen größeren Dienst als es Oschmanns Essay vermochte. Aus Kowalczuks Worten spricht für meinen Geschmack damit deutlich, dass er die Menschen hier ernstnimmt und eben nicht zum reinen Objekt von Debatten über sie verkommen lässt.

Ich weiß gar nicht mehr recht, ob dieser Band 2019 tatsächlich zu größeren Debatten geführt hat. Aber für meine fortlaufende Lesetour durch die ostdeutsche Geschichte und Gegenwart ist Kowalczuks Stimme unersetzlich.

Kurz und gut: Macht mitunter Aua, ist aber inspirierend. Lesen, unbedingt!

#leseherbst #sachbuch #essay #ilkosaschakowalczuk #chbeck #zeitgeschichte #ostdeutschland #transformation #wiedervereinigung #bundesrepublik #debatte #gesellschaft #demokratie #polbil #lesen #leselust #lesenswert #leseratte #bücher

Dienstag, 17. Dezember 2024

Marie Darrieussecq: Das Meer von unten

 

„Sie zögerte.
Am Fuß der Treppe schwankte ein Haufen betrunkener Rentner. Sie stellte sich ihren kleinen Körper vor, wie er aufrecht im hohlen Bauch des Schiffes stand, und darunter das unermessliche, gleichgültige Meer. Die Passagiere der Titanic hatten ja auch eine gewisse Zeit gebraucht, um die Zeichen zu deuten. Diese Reise war zu Weihnachten im Sonderangebot gewesen. Vielleicht, weil eines der Kreuzfahrtschiffe ein paar Jahre zuvor gesunken war. Zweiunddreißig Tote. Auch eine Kreuzfahrt barg Risiken.“ (Umschlagtext)

Bei Kreuzfahrten habe ich ja sofort das „Traumschiff“ meiner Kindheit vor Augen und bin ein bisschen angewidert ob der kitschigen Melodie, die sich auch gleich noch dazu in die Ohren schleicht.

Aber wenn plötzlich das Thema Migration in die Urlaubsidylle platzt, dann werde ich neugierig, wie das erzählt wird und wie die Geschichte weitergeht. Spannend ist es natürlich, wenn eigentlich nur ereignislose Erholung vor kitschiger Kulisse geplant war, aber dann plötzlich nach der harten Konfrontation mit der europäischen Grenzrealität im Mittelmehr ein ungeplanter Intensivkurs in Sachen Menschlichkeit und Empathie auf die Tagesordnung drängt.

Ich bin gespannt. 😊

„Strahlende Sonne, blauer Himmel: das Mittelmeer an Weihnachten, vom Deck eines Kreuzfahrtschiffes aus gesehen. An Bord die Psychologin Rose mit ihren beiden halbwüchsigen Kindern, sie soll sich eine Auszeit gönnen, denn es kostet Kraft, Familie und Beruf zu vereinbaren, und dann steht noch ein Umzug bevor, aus dem hektischen Paris ins beschauliche Clèves.

Mit der Erholung ist es vorbei, als ein Seelenfänger kentert und das luxuriöse Passagierschiff die Überlebenden aufnimmt, nur kurz, bis die Küstenwache eintrifft. Zeit genug für Rose, sich auf das Drama einzulassen und unwillkürlich Verantwortung zu übernehmen, wenigstens für einen der Flüchtlinge, für den jungen Younès, und sei es nur, weil er sie an ihren Sohn erinnert.

Durch ihre spontane Hilfsbereitschaft stellt Rose das Leben ihrer ganzen Familie auf den Kopf. Und sie lernt ihre Heimat aus einem ganz neuen Blickwinkel kennen, erkundet den Dschungel von Calais und sondiert Herzen, das eigene und das ihrer Mitmenschen.

Ein ungeheuer kluger, bewegender und zeitloser Roman über unsere Gegenwart in ihrer ganzen Komplexität, über die Schwierigkeiten und Schönheiten einer Begegnung mit dem Fremden, vor allem eine literarisch berückende Schule der Empathie, aus der Feder einer der bedeutendsten Schriftstellerinnen Frankreichs.“ (Klappentext)

(Übersetzung: Patricia Klobusiczky)

#leseherbst #roman #mariedarrieussecq #secession #indiebook #frankreich #europa #migration #kreuzfahrt #luxus #flucht #empathie #gesellschaft #lesen #leselust #leseratte #bücher #literatur

Sonntag, 15. Dezember 2024

David Christian: Big History. Die Geschichte der Welt – vom Urknall bis zur Zukunft der Menschheit


„Das Projekt einer modernen Ursprungsgeschichte liegt in der Luft.“ (Seite 9)

Und weiter geht es mit meiner kleinen ungeplanten Reise durch die Geschichte. Und Geschichte meint spätestens jetzt nicht mehr nur die Zeit, in der Menschen anfingen zu notieren, was so passiert. In diesem Band geht es einfach mal gleich um die Geschichte der Erde.

Big History, so schreibt es der Verlag im Buch, ist eine Richtung, die die Geschichte der Menschheit mit den Naturwissenschaften aussöhnen will. David Christian ist demnach einer der Begründer dieser historischen Schule und leitet das Big History Project, das von Bill Gates finanziert wird. Und das schreibe ich hier nicht mit rein, damit alle Aluhüte und Verschwörungsfreunde sich die Hände reiben können. Das ist banale Transparenz. 😊

Nach dem Band „Der Stoff, aus dem wir sind“ von Fabian Scheidler ist das nun das zweite Buch innerhalb kürzerer Lesezeit, in der ganz schön viel Naturwissenschaft eine Rolle spielt. Vieles davon hab ich zur Kenntnis genommen, auch wenn mir da sicher Zusammenhänge fehlen. Trotzdem fand ich diesen Teil des Buches eingängig und verständlich genug geschrieben.

Es ist der Teil, in dem unser Universum sich bildet, Sterne und Monde entstehen und der berühmte Urknall dafür sorgt, dass viele Milliarden Jahre später wir Menschen einen Planeten bewohnen, den zu zerstören wir uns anschicken.

Christian bestimmt acht Schwellenmomente in dieser wirklich langen Geschichte, die unumkehrbare Veränderungen hervorbrachten oder zumindest solche, die Entwicklungspfade ermöglicht, begünstigt oder hervorbrachten. Das große Stichwort ist Komplexität, die bei zunehmender Ausdifferenzierung von Stoffen, Teilchen etc. überhaupt erst so etwas wie Leben ermöglichten.

Das Auftauchen von Leben in seiner einfachsten Form ist in dieser Zählung schon Schwellenmoment 5. Es musste also schon ziemlich viel passieren, bevor Leben möglich werden konnte.

Zwischen den späteren Schwellenmomente wurden die Abstände immer kürzer. Während es zunächst Milliarden und Millionen von Jahren brauchte, bis die richtigen Momente, Mischungen und Ereignisse zusammenkamen, setzt mit der Entstehung des Lebens eine Dynamik ein, die sich eben nicht mehr nur anhand kosmischer Vorgänge vollzieht, sondern nachgerade eine Eigendynamik und schließlich ein Eigenleben entwickelt.

Die sechste Stufe ruft die Menschheit auf den Plan. Und weiter verkürzen sich die Abstände zwischen den Schwellen in dem Maße, wie die Menschen beginnen aktiv ihre Umgebung zu beeinflussen (Landwirtschaft) bis hin zu dem Moment, da das Wirken der Menschheit zum maßgeblichen Entwicklungsgeber der gesamten Welt geworden ist (Anthropozän). Wir haben uns die Erde buchstäblich untertan gemacht – oder sie als Geisel genommen.

So wie zeitgebundene Machtauseinandersetzungen schon an Bedeutung und Relevanz verlieren, je mehr der Menschheitsgeschichte man in den Blick nimmt. So verstärkt sich dieser Eindruck noch bei der Perspektive, die hier als Big History angeboten wird. Als nicht religiös geprägtem Menschen fällt es mir leicht, diese Art Schöpfungsgeschichte anzunehmen und für wahrscheinlich zu halten. Ich kann nur erahnen, wie schwer sich andere womöglich damit tun, dass in all diesen Vorgängen keine göttliche Hand walten soll.

Jetzt ist dieser Ansatz aber nicht nur dazu da, sich immer mehr Geschichten darüber zu erzählen, was wie gekommen ist, sondern zielt natürlich auch darauf ab, Schlussfolgerungen für das Morgen zu ziehen. Und man muss kein „Öko“ sein, um zu verstehen, welche große Verantwortung auf der Menschheit heute lastet. Einerseits waren es unsere Vorfahren, die mit dem Folgen bestimmter und dem Nichtfolgen anderer Entwicklungspfade dafür sorgten, dass wir eine irgendwie fast schon parasitäre Lebensform wurden. Andererseits zeigt dieser große Blick aber eben auch, dass es immer mehr als eine Möglichkeit zur Entwicklung gibt. Da sind hinreichend viele Gründe, uns nicht von der Frage, wer das alles bezahlen soll, vom Denken in Alternativen abbringen zu lassen. Wenn wir die Erde so zurichten konnten, können wir Dinge auch anders machen.

Monetarisierung von allem und jedem ist kein Naturgesetz. Die Einteilung der Menschheit in Arm und Reich ist kein Naturgesetz. Die Art, wie wir als Menschen miteinander leben wollen und uns dabei als Teil der Natur verstehen oder nicht – das sind Dinge, die wir offensichtlich in der Hand haben. Das zeigen allein die letzten paar Tausend Jahre Menschheitsgeschichte.

Ich bin begeistert davon, dass diese Art auf die Entwicklung von Erde und Menschheit zu blicken über so viel fundiertes und weiter wachsendes Wissen verfügt. Wir müssen es nur zur Kenntnis und als Anlass zum Handeln nehmen wollen.

Kurz und gut: Inspirierend und ermutigend. Lesen, unbedingt!

(Übersetzung: Hainer Kober)

#leseherbst #sachbuch #davidchristian #piper #geschichte #metageschichte #erde #urknall #menschheit #anthropozän #zukunft #perspektive #polbil #lesen #leselust #lesenswert #leseratte #bücher

Samstag, 14. Dezember 2024

Ulrich Rüdenauer: Abseits


„Bang saß er in der Bank und blickte hinauf zum Kreuz.“ (Seite 7)

Puh, danke, lieber Berenberg Verlag, dass ihr dieses Buch verlegt habt und danke auch für das Rezensionsexemplar! 😉

Gerade mal 188 Seiten schmal ist dieser Roman. Und manchmal braucht es eben auch nicht mehr, um eine Geschichte auf den Punkt und umwerfend gut zu erzählen.

Dies ist die Geschichte von Richard, der auf einem Hof in Süddeutschland aufwächst. Viel mehr, als dass der Krieg noch nicht lange zurückliegt, braucht es an zeitlicher Orientierung gar nicht. Dass der Zweite Weltkrieg noch keine zehn Jahre her ist, wird im Laufe der Geschichte deutlich genug.

Abseits – der Junge Richard, keine Zehn ist er, lebt auf dem Hof seiner Verwandten. Er ist dort bestenfalls geduldet, scheint aber mit seiner puren Anwesenheit seinen Onkel, seine Tante tagtäglich an Unaussprechliches, Scham- und Schuldbehaftetes zu erinnern. Er versucht sich einzufügen, eine Schuld abzutragen, die er fortwährend auf sich lasten spürt, ohne auch nur zu ahnen, worin sie bestehen könnte. Die Kinder des Hofes lassen ihn dabei sein, wenn es gut läuft. Auch in der Schule und selbst bei Wegen durchs Dorf kann er jederzeit spüren, dass ihm irgendetwas anhaftet.

In den Hügeln hinterm Haus findet er Ruhe, kann er sich unbelastet fühlen. Und bei den Gedanken an die Zeit bei seinem Großvater. Lange schon verschwimmen Erinnerungsträume und Realität dieser Zeit ineinander. Aber Großvaters Stimme kann ihn beruhigen, seine schwere Hand auf seiner Schulter ihn entlasten. So vieles über die Natur um das Dorf herum, was er vom Alten begierig gelernt hat.

Abseits – das harte Leben und Arbeiten auf dem Hof, das Dorf voller uralter Traditionen, die ganze Gegend wirkt wie abseits der Zeitläufte. Als aber Fritz Walter und die deutsche Nationalmannschaft in der Schweiz gegen Ungarn spielen und alle, wirklich alle sich in die Dorfkneipe quetschen und in Trauben vor dem Fenster stehen, um die Übertragung zu verfolgen, da bricht das Hier und Jetzt in das Dorfleben ein. Aber schnell ist auch das einfach nur eine Geschichte, die sich wissend nickend erzählt wird. Weißt du noch, dieser Abend

Die nahe Vergangenheit dagegen lastet spürbar, aber nicht greifbar wie ein Schleier auf dem Dorfleben. Als Richard ein Fädchen aus dem verfilzten Knäuel seiner Familiengeschichte in die Hände bekommt und auch nur zart daran zupft, da reißt dieser wortlose Schleier einen Spalt breit auf und Fragen und noch mehr Fragen drängen hindurch. Leser:innen ahnen schneller als der kleine Junge, wie viel mehr die Menschen in diesem Dorf wissen müssen, wovon sich Richard, vielleicht auch zu seinem Glück, allein aufgrund seines Alters keine Vorstellung machen kann.

Obwohl alles an dieser Geschichte so unglaublich, niederschmetternd traurig erscheint, gereicht Richard allein das Wissen, dass es eine Mutter und einen Vater gegeben hat, um Mut zu fassen und in der Ferne eine Zukunft erahnen zu können und zu wollen. Er wird, auch das lässt sich anhand der Erzählstimme, die immer mal wieder auf unser Hier und Jetzt verweist, seinen Weg gehen.

Dem Autor dieses Romandebüts ist ein beachtliches Stück gelungen. Einerseits führt er mit der Geschichte in eine Zeit des Schweigens zurück, ohne dabei anklagend klingen zu müssen. Die Geschehnisse sprechen für sich und für die Zeit. Zugleich gelingt ihm mit der Figur des Jungen Richard ein wunderbares Beispiel für die Möglichkeit einer besseren Zukunft, von etwas Glück, von Stärke gegenüber dem schuldbeladenen Gleichmut, von Aufbruch aus dem Abseits.

Andererseits gelingt ihm all das mit einer Sprache, die im besten Sinne entrückt und ergreifend zugleich daherkommt. Das ist kein Roman, der von vergangenen Zeiten im modernen Sprech erzählen will. Rüdenauers Sätze kleiden den Hof, das Dorf, die Hügel drumherum aus und zeichnen sehr klar und so gar nicht verkitschte Bilder. So braucht er wahrhaftig nicht mehr als 188 Seiten, um so viel zu sagen und die Szenen sprechen zu lassen.

Autor und Buch, natürlich auch dem Verlag, kann ich nur ganz viel Aufmerksamkeit des Publikums und der Presse wünschen. Und mir wünsche ich noch mehr von Ulrich Rüdenauer zu lesen. 😊

Kurz und gut: Entrückt und ergreifend. Lesen, unbedingt!

#leseherbst #roman #ulrichrüdenauer #berenberg #indiebook #deutschland #nachkriegszeit #dorfleben #schweigen #bastard #gesellschaft #einsamkeit #comingofage #lesen #leselust #lesenswert #leseratte #bücher #literatur

Donnerstag, 12. Dezember 2024

Hallgrímur Helgason: 60 Kilo Kinnhaken


„Nach seinem Bestseller 60 Kilo Sonnenschein schreibt Hallgrímur Helgason die Reise seines Landes in die moderne Welt fort. Ein imposantes, vor Originalität sprühendes Werk, das einmal mehr zeigt, warum Helgason zu den ganz großen Schriftstellern seines Landes zählt.

60 Kilo Sonnenschein wurde in Island mit dem Preis für den besten Roman des Jahres ausgezeichnet.“ (Umschlagtext)

Ein Waisenjunge sucht seinen Weg ins Leben. Und weil er auf keine Familie bauen kann, fällt es ihm umso leichter, die Verheißungen der Moderne als Versprechen für sein Leben zu verstehen. Schon im ersten Band war es eine erzählerisch wunderbare Idee die Geschichte Islands anhand des Lebensweges des Waisenjungen Gestur zu erzählen.

Ich habe keinen Zweifel, dass ich mich einmal mehr in diesen Fjord voller Menschen und Geschichten verlieben werde. Wollja! 😉

„Der fiktive kleine Ort Segulfjörður erlebt Sonnenschein satt. 1906, nach der vierten erfolgreichen Heringssaison, säumen bunte Holzhäuser den Fjord, am Hafen treffen ausländische Fischer auf einheimische Frauen und überall winkt die Chance auf schnell verdientes Geld. Auch für den jungen Waisen Gestur, der mittlerweile volljährig ist und sich kopfüber in diese neue Welt mit ihren ungeahnten Möglichkeiten stürzt. Doch dann holt das Schicksal zu einem fiesen Kinnhaken aus, der dem Treiben am Fjord ein jähes Ende setzt.
Wortgewaltig und humorvoll erzählt Hallgrímur Helgason vom abenteuerlichen Weg Islands in die Moderne.“ (Klappentext)

(Übersetzung: Karl-Ludwig Wetzig)

#leseherbst #roman #hallgrimurhelgason #tropen #island #comingofage #waise #moderne #aufbruch #tradition #lesen #leselust #leseratte #bücher #literatur

Mittwoch, 11. Dezember 2024

Mosaik #588

 

Sich an trüber und grauer werdenden Herbst- und fast Wintertagen in eine geheimnisvolle Bibliothek zurückziehen und einfach erst im Frühjahr mit den ersten Knospen wieder herauszukommen – ja, da bin ich dabei. 😊

#leseherbst #comic #mosaik #abrafaxe #abenteuer #zeitreise #mittelalter #klosterlorsch #könig #bischoff #lesen #leselust #leseratte #bücher #literatur #yesyoucomican #instacomic #instabook #bookstagram #igread #comics #instacomics #instabooks #igreads #read #readings