Freitag, 10. Januar 2025

Sebastian Barry: Jenseits aller Zeit


„Nach vierzig Jahren als Kriminalbeamter wird Tom Kettle in seinem neuen Zuhause angespült, einer kleinen Einliegerwohnung im Anbau einer viktorianischen Burg, mit Blick auf den Coliemore Harbour und die irische See. Sich nicht zu rühren, glücklich und nutzlos zu sein, ist für ihn Sinn und Zweck des Ruhestands. Doch an einem stürmischen Frühlingsnachmittag klopfen zwei ehemalige Kollegen an seine Tür, um ihn zu einem alten Mordfall zu befragen. Ein traumatischer Fall, der alte Wunden aufreißt, denn ‚nichts war so, wie behauptet wurde. Die Wahrheit eingeschlossen. Die Gardeí. Das Land.‘“ (Umschlagtext)

Es wird ja Zeit, dass ich auch mal wieder was von dem heißen, ganz aktuellen Zeug poste. Also los! 😊

Dass Barry und insbesondere die Romane über Thomas McNulty, John Cole und Winona es mir wirklich so richtig heftig angetan haben, hatte ich an dieser Stelle schon verschiedentlich erwähnt. Als guter Fanboy lautet meine Mission natürlich, auch die anderen Werke dieses Autors zu erkunden. Und da lag dann doch quasi druckfrisch dieser Band einfach so in der besten Buchhandlung von allen herum.

Nein nein, da führte also kein Weg vorbei. Und ich freue mich drauf, Barrys Sprache und Erzählen mal in einem zeitgenössischen Setting zu erleben.

Gerade weil die anderen Bände (siehe oben) durch eine raue und sehr spezifische Sprache funkelten, die aber so natürlich nur mit den konkreten Geschichten zu dieser Zeit funktionieren können, erwartet mich vermutlich ein für mich ganz neuer Barry-Sound. Spannend! 😉

„Tom Kettle ist ein unzuverlässiger Zeuge und ein unzuverlässiger Erzähler. Seine Welt ist ein Ort voller Trauer und leisem Humor. Hier verweilen die Geister seiner Frau und seiner Kinder, verschwimmen Pflicht und Gerechtigkeit, geht die Erinnerung ganz eigene, verschlungene Wege.“ (Verlagstext)

(Übersetzung: Hans-Christian Oeser)

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Donnerstag, 9. Januar 2025

Jin Yong: Die Legende der Adlerkrieger


„Kurz vor ihrem Tod schwören zwei Kung-Fu-Krieger einander ewige Bruderschaft. Ein Eid, der auch für ihre Kinder gelten soll. Doch ihre Söhne wachsen als Feinde auf. Als die beiden einander Jahre später schließlich begegnen, geht es um nichts Geringeres als das Schicksal des ganzen chinesischen Reiches …

Fliegende Krieger, kämpfende Mönche, ein liebenswerter Held und ein Abenteuer, das sich vom Herzen Chinas bis in die weite Steppe der Mongolei erstreckt – mit Die Legende der Adlerkrieger hat Jin Yong ein Stück Weltliteratur geschrieben.“ (Umschlagtext)

Der MM weiß halt, wie er mich überrascht. Ich meine, hatte jemand von euch diese Fantasy-Saga schon auf dem Schirm? Ich jedenfalls nicht.

Umso gespannter bin ich, weil „der chinesische Herr der Ringe“ ja schon mal ne Ansage ist. 😉

Klar, ließen sich schon sehr lange auch Bücher aus anderen Sprachen in den Regalen der Buchläden finden. Aber die Sprachen und Weltregionen, aus denen inzwischen Übersetzungen vorliegen, sind doch schon noch mal sehr viel mehr geworden und die Auswahl deutlich breiter.

Darum können wir die Übersetzungskultur hierzulande gar nicht hoch genug schätzen. Das muss auch mal zwischendurch erwähnt werden!

„Kurz bevor sie von den grausamen Soldaten des Jin-Reiches getötet werden, schließen die beiden Kung-Fu-Kämpfer Guo Xiaotian und Yang Tiexin einen Pakt: Für immer sollen ihre beiden noch ungeborenen Kinder einander in Treue verbunden sein. Während der Weg des Schicksals Yangs schwangere Frau an den Hof des Jin-Prinzen führt, verschlägt es Guos Frau in die weiten Steppen der Mongolei. Dort bringt sie ihren Sohn Guo Jing zur Welt, und die beiden finden Unterschlupf beim Clan des aufstrebenden Mongolenfürsten Dschingis Khan. Bald wird Guo Jing von den Sieben Sonderlingen des Südens, den besten Kung-Fu-Meistern Chinas, zum Kämpfer ausgebildet. Und kurz darauf findet sich der tapfere und gutherzige junge Krieger inmitten eines gewaltigen Abenteuers wieder, bei dem es um nichts Geringeres geht als das Schicksals Chinas selbst. Noch ahnt Guo Jing nicht, dass sein mächtigster Gegenspieler der von seinem verstorbenen Vater auserkorene Schwurbruder Yang Kang sein wird …

Die Legende der Adlerkrieger ist der Auftakt zu Jin Yongs großer Fantasy-Saga, die seit ihrem Erscheinen Generationen von Leserinnen und Lesern in ganz Asien begeistert hat und inzwischen zu den großen Klassikern der modernen chinesischen Literatur zählt.“ (Klappentext)

(Übersetzung: Karin Betz)

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Dienstag, 7. Januar 2025

Cormac McCarthy: Ein Kind Gottes


„Sie kamen in der Morgensonne wie eine Karawane von Schaustellern durch die mit Bartgras bewachsenen Senken und über den Hügel, der Lkw schaukelte und schlingerte in den Furchen, die Musiker, die auf den Stühlen auf der Ladefläche saßen, schwankten, während sie ihre Instrumente stimmten, der fette Gitarrist gestikulierte grinsend in Richtung anderer in einem Wagen dahinter, beugte sich vor, um dem Fiddler einen Ton anzugeben, und dieser drehte lauschend und mit gerunzelter Stirn an einem Wirbel.“ (Seite 7)

Ok, dieses Buch ist definitiv nichts für kuschelige Weihnachtsfeiertage oder eine leichte Weißweinlaune unterm Sonnenschirm am Strand. Ich glaube, sehr starker Kaffee oder etwas Gebranntes passen da besser und ein Halblicht, das noch nicht zu viele Schatten wirft, aber schon etwas leicht Dramatisches in sich hat.

Karg ist das Leben von Lester Ballard in Tennessee in den 60ern des letzten Jahrhunderts. Wie so oft bei McCarthy ist alles irgendwie in eine triste Wildwest-Romantik getaucht, nur ohne Romantik. Denn das ist so ziemlich das Letzte, was einem bei Lester Ballard einfallen würde.

Es ist schon wieder eine Weile her, dass ich den Roman gelesen habe. Im Kopf geblieben ist mir eine zottelige, abgerissene und wirklich zutiefst bemitleidenswerte Nicht-Figur. Aber selbst das Mitleid löst sich auf wie der Morgendunst wenn eine trübe Sonne über dem tristen Land aufgeht und ihren Blick auf diese Existenz am Rand wirft.

Es braucht gar nicht viel zu wissen über Lester Ballard, denn McCarthy beschreibt einfach und zugleich poetisch den Abstieg dessen, der eigentlich schon unten angekommen zu sein scheint. Haft, Psychiatrie – wie viel tiefer kann es noch gehen?

Lester Ballard zieht sich buchstäblich unter die Erde zurück, wo er alles Menschliche gänzlich zu verlieren scheint, die Opfer seiner Serienmorde ansammelt, ein Dasein führt, für das es in der Welt, der er so weit entrückt ist, schlicht keine Worte mehr gibt.

Besonders ist mal wieder die Sprache McCarthys, die ohne sprachlichen Zierrat auskommt und das Grauen umso besser trifft. Hier geht es ihm aber eben nicht um den Effekt, der Grusel der Zuschauer, auf den billige Horrorfilme abzielen würden. McCarthy lässt die Frage, wo das, was uns als menschlich auszeichnet, anfängt oder vielmehr aufhört. Einsamkeit, purer Instinkt und Trieb, gerade mal der Wille irgendwie zu überleben?

Das Mitleid verfliegt, schrieb ich oben. Und tatsächlich zeichnet McCarthy mit Lester Ballard eine Figur, die, als von der Gesellschaft Ausgestoßener, in einer endlosen Abwärtsspirale gefangen ist. Das schreit doch nach Mitleid. Aber nein, wenn die letzte Seite gelesen ist, folgt eher ein Aufatmen, dass dieses Phantom ein Ende hat. Auf dem Weg dahin ist es schier unerträglich.

Damit hebt McCarthy umso mehr hervor, wie unaufhaltsam diese Spirale geraten kann – für einen Ausgestoßenen wie für diejenigen, die ihn einfach nur noch weghaben wollen, wie menschliches Ungeziefer.

Der Roman buchstabiert die gesellschaftliche Ebene nicht aus, muss er aber auch gar nicht. Auch wenn am Ende immer noch kein echtes Mitleid mit Lester Ballard steht, machte sich bei mir zumindest eine Beklommenheit breit, die mich noch eine Weile beschäftigt hat.

Kurz und gut: Das ist düster. Lesen!

(Übersetzung: Nikolaus Stingl)

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Sonntag, 5. Januar 2025

Carolin Amlinger/ Oliver Nachtwey: Gekränkte Freiheit. Aspekte des libertären Autoritarismus


„Die alte Schulfreundin, der Kollege, das Familienmitglied, die neuerdings davon raunen, dass sie ihre Freiheit bedroht sehen – die meisten von uns können wohl von solchen Begegnungen berichten.“ (Seite 9)

Vor gerade mal zwei Jahren, 2022 nämlich, erschien diese Studie vor dem Eindruck der zunehmend lauter und medial wirkmächtiger werdenden und sich festigenden Szene der Corona-Leugner:innen/-Kritiker:innen. Dieser ursprüngliche Anlass nimmt dem Band leider nichts an seiner Aktualität.

Das hier untersuchte Phänomen von Menschen, die sich ultra-libertär gebärden, ihre Freiheit vollumfänglich bedroht sehen, überall diktatorische Entwicklungen am Werk sehen und sich stets und ständig bedroht und unterdrückt wähnen, findet sich heute nicht weniger stark ausgeprägt. Ganz im Gegenteil findet diese Haltung in mindestens der #noafd aber letztlich auch im BSW parteipolitische Vertretungen, die bereit sind, sie in die politische Arena, in die Parlamente zu tragen.

Es erscheint mir zumindest geradezu grotesk, dass die Anlässe für die Behauptung einer Meinungsdiktatur dicht gestaffelt und durch ihre Häufung inzwischen nahezu bedeutungslos geworden sind. Waren es zunächst die Zumutungen, die uns alle unter dem Eindruck der Coronapandemie ereilten, Maskenpflicht, eingeschränkte Bewegungsfreiheit etc., reichten kurz darauf behauptete Meinungsverbote, die lautstark öffentlich beklagt wurden, und selbst ein geplantes Gesetzesvorhaben zu Heizungen, das zum Zeitpunkt der Debatte noch nicht mehr als ein internes Papier weit vor dem Stadium eines Gesetzesentwurfes war.

Kurz, die Haltung des libertären Autoritarismus ist nunmehr ein gefestigtes Phänomen, dass leider alles andere als randständig ist, sondern vielmehr die Mitte der Gesellschaft erreicht zu haben scheint. Dies wenigstens lassen die letzten Landtagswahlergebnisse in Ostdeutschland vermuten, wenn man die Zahlen für #noafd und BSW zusammenrechnet.

Beide vereint, dass sie wie die Corona-Leugner:innenszene zuvor ihre je individuelle Freiheit derartig überbetonen und in den Mittelpunkt rücken, dass jedes gesellschaftliche Ansinnen, das uns alle betreffen müsste, sofort als Angriff auf dieselbe angesehen wird. Die hier eingeforderte Freiheit beinhaltet kaum mehr einen gesellschaftlichen Zusammenhalt, der Einzelnen womöglich Beschränkungen auferlegt, um gesellschaftlich wirksam werden zu können.

Ob menschengemachter Klimawandel, Migration, gendergerechte Sprache – alles stellt eine Einschränkung der eigenen Freiheit dar, egal ob es diese Einschränkungen in Form von gesetzlichen Regelungen überhaupt gibt oder nicht. So passieren so absurde Dinge wie, dass gesetzliche Regelungen auf den Weg gebracht werden, die das Gendern untersagen, wo es zuvor keinerlei Regelungen gab, die das Gegenteil versucht hätten. Alles im Namen der Freiheit.

Außerdem bietet die hier untersuchte Haltung die Möglichkeit, sich selbst jederzeit als gekränkt, unterdrückt und eingeschränkt zu empfinden. So wird jede noch so banale und selbstverständlich mögliche Meinungsäußerung zum Widerstand stilisiert – und wer das anders sieht, wird zum Feind.

Die bevorstehenden Neuwahlen zum Bundestag und der nunmehr deswegen angelaufene Wahlkampf lassen leider befürchten, das von den größten Kritiker:innen der Westbindung Deutschlands und Europas eine weitere Amerikanisierung der hiesigen Verhältnisse befeuert wird. Und sie beklatschen das, wie sich an dem Jubel über die Einmischungen von Elon Musk in die deutsche Politik beobachten lässt.

Wie so oft, hab ich nun etwas weiter ausgeholt, glaube aber, dass der Band von Amlinger und Nachtwey vor diesem Hintergrund alles andere als überholt ist. Die Lektüre erfordert schon einige Konzentration. Das ist kein politischer Kommentar, der sich mal nebenher zwischen Abendbrot und Tatort lesen lässt. Aber die Mühe lohnt, weil viel Wiedererkennen und Erhellendes garantiert sind.

Kurz und gut: Eigentlich gruselige aber eben wichtige Erkenntnisse. Lesen, unbedingt!

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Freitag, 3. Januar 2025

Fernanda Melchor: Paradais

 

„Der Dicke war an allem schuld, das würde er ihnen sagen.“ (Seite 9)

Schon der erste literarische Faustschlag mit „Saison der Wirbelstürme“ hat gesessen. Mit dem 2021 erschienenen neuen Band holt Fernanda Melchor erneut aus: knapp, präzise und treffsicher.

Am Pool einer luxuriösen Wohnanlage mit dem ambitionierten Namen Paradise lungert ein zu dicker, junger blonder Mann herum. Die Zeit schlägt er mit zu viel Alkohol tot. Gesellschaft hat er dabei immer wieder durch den gerade mal sechzehnjährigen Gärtner Polo.

So richtig paradiesisch fühlt sich der dicke Taugenichts nicht und fantasiert in einer Tour davon, dass die schöne Nachbarin unheimlich scharf auf ihn sei. Das malt Franco sich in den schillerndsten Farben aus und lädt Polo immer wieder zum gemeinsamen Besäufnis ein.

Der Gärtner kann nur davon träumen, in so einer Umgebung zu wohnen und hat einfach auch nichts Besseres zu tun, also setzt er sich eins ums andere Mal zu Franco und lässt sich mit Bier dafür entschädigen, dass er dessen Tiraden erträgt und aushält.

In diesen Selbstgesprächen Francos wird aus der schönen aber in der Realität unerreichbaren Nachbarin erst die begehrte Frau und Stück für Stück aus dieser ein Flittchen, eine Schlampe. Franco fabuliert sich immer mehr in Rage, sein Frust darüber, sein Leben nicht auf die Ketten zu bekommen und unsichtbar für die schöne Frau von nebenan zu sein wächst und gedeiht und wird sich mit aller schrecklichen Gewalt Bahn brechen.

Melchor schreibt vor dem Hintergrund einer misogynen Kultur in ihrem Heimatland Mexiko. Die Berichte über Femizide schaffen es seit einigen Jahren mit unschöner Regelmäßigkeit auch in die Berichterstattung hierzulande. Und das sind keine Berichte von exotischen Sandstränden und Mojitos im Sonnenuntergang.

Mit rauem Stil entfaltet Melchor hier, wie aus bierseligem Gefasel, viel Frust und vor dem Hintergrund einer frauenfeindlichen Kultur eine Frau immer mehr zum Objekt zunächst der Begierde und dann des unbändigen Hasses wird. Der Alkohol ist hier im Grunde nur der Brandbeschleuniger für eine Glut, die im männlichen Selbstverständnis schon angelegt scheint. Dies gilt zumindest für Franco, den man sich eigentlich wie den Prototypen eines Incels vorstellen kann.

Mit Polo stellt Melchor dem durch Frust und Alkohol enthemmten Franco zwar einen Mitläufer an die Seite, der aber als jüngerer und noch mit Skrupeln behafteter junger Mann auch die Möglichkeit eröffnet, dass Männer sich anders entscheiden können. Für Franco ist jede Hoffnung verloren – ebenso wie für seine letztlich wahllos ausgesuchten Opfer.

Dass die Erzählung des Verbrechens bei dem Blickwinkel der Männer bleibt und unbarmherzig draufhält, wird durch den schon erwähnten rauen und schnörkellosen Tonfall der Geschichte schon fast unerträglich zu lesen. Für diese Schonungslosigkeit ist Fernanda Melchor einmal mehr zu danken.

Kurz und gut: Ein präziser literarischer Faustschlag, genau dahin, wo es weh tut. Lesen, unbedingt!

(Übersetzung: Angelica Ammar)

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